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EuGH: Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

RL 93/13/EWG: Art 6, Art 7

Der EuGH hat am 17. 5. 2022 über mehrere Vorabentscheidungsersuchen spanischer, italienischer und rumänischer Gerichte entschieden, die die Auslegung der RL 93/13/EWG (KlauselRL) betreffen. Angefragt wurde, ob nationale Verfahrensgrundsätze – wie die Rechtskraft – Befugnisse insb der nationalen Vollstreckungsgerichte zur Prüfung der etwaigen Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln einschränken können (Verbot einer solche Prüfung, einschließlich einer Prüfung von Amts wegen auf der Vollstreckungsebene in Anbetracht dessen, dass bereits zuvor erlassene Entscheidungen nationaler Gerichte vorliegen).

Entscheidung

Nach Art 6 Abs 1 KlauselRL sehen die Mitgliedstaaten vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind. Es handelt sich um eine zwingende Bestimmung, die darauf abzielt, die nach dem Vertrag bestehende formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so ihre Gleichheit wiederherzustellen.

Das nationale Gericht muss von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel prüfen, die in den Anwendungsbereich der KlauselRL fällt, und muss damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt.

Außerdem verpflichtet die KlauselRL, wie sich aus ihrem Art 7 Abs 1 iVm ihrem 24. Erwägungsgrund ergibt, die Mitgliedstaaten dazu, angemessene und wirksame Mittel vorzusehen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen ein Ende gesetzt wird, die er mit Verbrauchern schließt.

Mangels einer unionsrechtlichen Regelung sind die Modalitäten der Verfahren zum Schutz der unionsrechtlichen Rechte Einzelner nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten. Diese Modalitäten dürfen allerdings nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der unionsrechtlichen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).

EuGH 17. 5. 2022, C-869/19, Unicaja Banco

Zu einem spanischen Vorabentscheidungsersuchen.

Der EuGH hat zum spanischen Recht bereits klargestellt, dass die nationale Rsp nicht vorsehen darf, dass dem Verbraucher nur jene Beträge zurückzuzahlen sind, die er rechtsgrundlos bezahlt hat, nachdem die gerichtliche Entscheidung verkündet worden ist, mit der die Missbräuchlichkeit der zugrundeliegenden Klausel festgestellt worden ist; eine solche zeitliche Beschränkung der Restitutionswirkungen verstößt gegen Art 6 Abs 1 KlauselRL (EuGH 21. 12. 2016, C-154/15, C-307/15 und C-308/15, Gutiérrez Naranjo ua, Rn 75).

Im Ausgangsverfahren hat der Verbraucher keinen Rechtsbehelf gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegt, mit dem die Restitutionswirkung vom ErstG entsprechend der damaligen nationalen Rsp zeitlich begrenzt wurde. Dies kann jedoch darauf zurückgeführt werden, dass die Rechtsmittelfrist bereits abgelaufen war, als das Urteil in der Rs C-154/15 ua verkündet wurde; der Verbraucher blieb somit nicht „völlig untätig“ (iSd Rsp EuGH 1. 10. 2015, C-32/14, ERSTE Bank Hungary, Rn 62), als er sich vor dem BerufungsG nicht gegen eine bis dahin ständige nationale Rsp wandte. Das vorlegende Gericht hegt daher nun Zweifel, ob die nationalen Rechtsgrundsätze der Verhandlungsmaxime, der Dispositionsmaxime und des Verbots der reformatio in peius mit Art 6 Abs 1 KlauselRL vereinbar sind.

Dazu stellt der EuGH nun klar, dass es den Effektivitätsgrundsatz beeinträchtigen würde, wenn das BerufungsG nach den nationalen Rechtsgrundsätzen einen Verstoß gegen Art 6 Abs 1 KlauselRL nicht von Amts wegen aufgreifen und nicht die vollständige Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Beträge anordnen dürfte, wenn das Nichtvorgehen des Verbrauchers gegen diese zeitliche Begrenzung nicht auf eine völlige Untätigkeit des Verbrauchers zurückgeführt werden kann.

EuGH 17. 5. 2022, C-725/19, Impuls Leasing România

Zu einem rumänischen Vorabentscheidungsersuchen.

Im Ausgangsfall sah der Leasingvertrag zwischen einem Verbraucher und einem Gewerbetreibenden ua vor, dass der Leasinggeber im Fall der Nichterfüllung der Vertragspflichten Zwangsvollstreckung betreiben könne. Infolge der Nichtzahlung der Leasingraten leitete der Unternehmer dementsprechend ein Vollstreckungsverfahren ein. Die Vertragsklauseln des Leasingvertrags könnten nach dem nationalen Recht vom Vollstreckungsgericht nur dann auf ihre Missbräuchlichkeit hin überprüft werden, wenn es für ihre Nichtigerklärung kein Verfahren zur Nichtigerklärung des Vertrags und auch keine ordentliche Klagemöglichkeit gibt. Eine solche Möglichkeit zur Klageerhebung nach allgemeinem Recht besteht jedoch. Das vorlegende Gericht hält es nun für fraglich, ob nicht ein Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz vorliegt und die nationalen Zwangsvollstreckungsmechanismen den Verbrauchern die Ausübung ihrer Rechte nach der KlauselRL praktisch unmöglich machen bzw übermäßig erschweren.

Dazu hält der EuGH nun fest, dass Art 6 Abs 1 und Art 7 Abs 1 KlauselRL derartigen nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, sofern das Gericht des Erkenntnisverfahrens, bei dem gesondert eine ordentliche Klage auf Prüfung der Missbräuchlichkeit der Klauseln eines Verbrauchervertrags anhängig gemacht werden kann, das Vollstreckungsverfahren nur dann bis zu seiner Sachentscheidung aussetzen kann, wenn eine Sicherheit geleistet wird, deren Höhe geeignet ist, den Verbraucher davon abzuhalten, eine solche Klage zu erheben und aufrechtzuerhalten. Die Kosten, die ein gerichtliches Verfahren im Verhältnis zur Höhe der bestrittenen Forderung mit sich brächte, dürfen den Verbraucher nämlich nicht davon abhalten, das Gericht anzurufen, um die etwaige Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln prüfen zu lassen. Dass ein in Zahlungsverzug geratener Schuldner nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen wird, um die erforderliche Sicherheitsleistung zu stellen, ist wahrscheinlich. Dies gilt umso mehr, wenn der Gegenstandswert der eingelegten Rechtsbehelfe den Gesamtwert des Vertrags merklich übersteigt, wie es in der vorliegenden Rs der Fall zu sein scheint.

EuGH 17. 5. 2022, C-693/19 und C-831/19, SPV Project 1503

Zu zwei italienischen Vorabentscheidungsersuchen.

Die Vorlagefragen beziehen sich auf Fälle, in denen ein Gericht auf Antrag des Gläubigers eines Verbrauchervertrags einen Mahnbescheid gegen den Verbraucher erlassen hat, der vom Verbraucher nicht angefochten wurde. Das nationale Recht sieht dazu vor, dass das Vollstreckungsgericht den Inhalt des Mahnbescheids nicht prüfen und wegen dessen impliziter Rechtskraft auch weder von Amts wegen noch auf Antrag des Verbrauchers die Vertragsklauseln auf etwaige Missbräuchlichkeit hin überprüfen darf, die dem Mahnbescheid zugrunde liegen.

Dazu stellt der EuGH klar, dass die Pflicht der nationalen Gerichte, von Amts wegen die etwaige Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln zu prüfen, ausgehöhlt würde, wenn nach einer nationalen Regelung eine Prüfung der Missbräuchlichkeit der Vertragsklauseln von Amts wegen selbst dann als durchgeführt und von der Rechtskraft erfasst gilt, wenn eine Entscheidung wie der Erlass eines Mahnbescheids hierzu keinerlei Begründung enthält. Folglich verlangt in einem solchen Fall die Anforderung an einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, dass das Vollstreckungsgericht – auch erstmals – beurteilen darf, ob Vertragsklauseln womöglich missbräuchlich sind.

Unerheblich ist dabei, dass sich der Schuldner seiner Verbrauchereigenschaft iSd KlauselRL nicht bewusst war, als der Mahnbescheid unanfechtbar wurde. Das nationale Gericht ist nämlich verpflichtet, die Missbräuchlichkeit einer in den Anwendungsbereich der KlauselRL fallenden Vertragsklausel von Amts wegen zu prüfen.

EuGH 17. 5. 2022, C-600/19, Ibercaja Banco

Zu einem spanischen Vorabentscheidungsersuchen.

Art 6 Abs 1 und Art 7 Abs 1 KlauselRL stehen nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die in Anbetracht von Rechtskraft und Ausschlusswirkung weder dem Gericht erlauben, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln im Rahmen eines Hypothekenvollstreckungsverfahrens zu prüfen, noch dem Verbraucher erlauben, nach Ablauf der Einspruchsfrist die Missbräuchlichkeit dieser Klauseln in diesem Verfahren oder einem späteren Erkenntnisverfahren geltend zu machen, wenn diese Klauseln bereits bei der Einleitung des Hypothekenvollstreckungsverfahrens von Amts wegen von dem Gericht auf ihre etwaige Missbräuchlichkeit hin geprüft wurden, die gerichtliche Entscheidung, mit der die Zwangsvollstreckung aus der Hypothek gestattet wird, aber keine – selbst summarische – Begründung enthält, die diese Prüfung belegt, und in dieser Entscheidung nicht darauf hingewiesen wird, dass die Beurteilung, zu der das Gericht am Ende dieser Prüfung gelangt ist, nicht mehr in Frage gestellt werden kann, wenn nicht fristgemäß Einspruch eingelegt wird.

Art 6 Abs 1 und Art 7 Abs 1 KlauselRL stehen nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegen, die einem nationalen Gericht weder von Amts wegen noch auf Antrag des Verbrauchers erlauben, die etwaige Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln zu prüfen, wenn die hypothekarische Sicherheit verwertet wurde, die mit einer Hypothek belastete Immobilie verkauft wurde und die Eigentumsrechte an der Immobilie auf einen Dritten übertragen wurden, sofern der Verbraucher, dessen Immobilie Gegenstand eines Hypothekenvollstreckungsverfahrens war, seine Rechte in einem nachfolgenden Verfahren geltend machen kann, um gem der KlauselRL Ersatz für die finanziellen Folgen zu erlangen, die sich aus der Anwendung missbräuchlicher Klauseln ergeben.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 32550 vom 18.05.2022