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EuGH: Mit Lebensmitteln verwechselbare Badekugeln

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

RL 87/357/EWG: Art 1

Art 1 RL 87/357/EWG [zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Erzeugnisse, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist und die die Gesundheit oder die Sicherheit der Verbraucher gefährden] sieht lediglich vor, dass ein Erzeugnis (hier Badekugeln) unter das durch die RL 87/357/EWG eingeführte Verbot der Herstellung, Vermarktung, Einfuhr oder Ausfuhr fällt, wenn vier kumulative Voraussetzungen erfüllt sind:

1.Es muss es sich bei dem Erzeugnis um ein Nicht-Lebensmittel handeln, das die Form, den Geruch, die Farbe, das Aussehen, die Aufmachung, die Etikettierung, das Volumen oder die Größe eines Lebensmittels hat;
2.diese Merkmale müssen so beschaffen sein, dass vorhersehbar ist, dass Verbraucher, insb Kinder, das Erzeugnis mit einem Lebensmittel verwechseln;
3.es muss weiters vorhersehbar sein, dass Verbraucher das Erzeugnis deshalb zum Mund führen, lutschen oder schlucken;
4.und es muss mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden sein können, wenn dieses Erzeugnis zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt wird.

Die RL 87/357/EWG enthält keine Vermutung der Gefährlichkeit von Erzeugnissen, deren tatsächliche Beschaffenheit nicht erkennbar ist, sondern verlangt, dass die Risiken bei einem Zum-Mund-Führen, Lutschen oder Schlucken im Einzelfall beurteilt werden. Die zuständigen nationalen Behörden müssen daher die Voraussetzungen im Einzelfall prüfen und begründen, warum ein Erzeugnis die Voraussetzungen gem Art 1 der RL erfüllt. Dies Beurteilung muss sich zwar auf die vier Voraussetzungen des Art 1 Abs 2 RL 87/357/EWG beziehen, die RL verlangt jedoch nicht, dass die nationalen Behörden durch objektive und belegte Daten nachweisen, dass die Verbraucher (insb Kinder) die Erzeugnisse mit Lebensmitteln verwechseln werden und dass die Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals erwiesen ist. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung reicht es nämlich aus, dass es mit solchen Risiken verbunden sein kann, wenn das Erzeugnis zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt wird. Würde das Erfordernis auferlegt, die Gewissheit nachzuweisen, dass sich diese Gefahren verwirklichen werden, würde überdies kein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Gebot des Schutzes von Personen und Verbrauchern und dem des freien Warenverkehrs gewährleistet.

EuGH 2. 6. 2022, C-122/21, Get Fresh Cosmetics

Zu einem litauischen Vorabentscheidungsersuchen.

Entscheidung

Hat ein Erzeugnis das Erscheinungsbild oder den Geruch eines Lebensmittels, müssen die zuständigen nationalen Behörden nicht nur die Wahrscheinlichkeit beurteilen, mit der es mit einem Lebensmittel verwechselt und deshalb zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt wird, sondern auch die Risiken einer solchen Handlung.

Diese Beurteilung muss zum einen auf den objektiven Merkmalen des Erzeugnisses beruhen. So wird ein Erzeugnis, das nur grob das Erscheinungsbild oder den Geruch eines Lebensmittels hat, wahrscheinlich nicht mit einem Lebensmittel verwechselt werden. Die objektiven Merkmale, insb die Materialien und die Zusammensetzung des Nicht-Lebensmittels, dienen auch der Feststellung, ob es mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden sein kann, wenn das Erzeugnis zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt wird. Derjenige, der das Erzeugnis in Verkehr bringt, hat daher gegebenenfalls die Materialien und die Zusammensetzung des Erzeugnisses mitzuteilen.

Bei dieser Beurteilung ist zum anderen die Verletzlichkeit von Personen- und Verbrauchergruppen zu berücksichtigen, die mit diesen Erzeugnissen konfrontiert sein können, darunter insb von Kindern (vgl schon den Wortlaut von Art 1 Abs 2 RL 87/357/EWG).

Zusammenfassend hält der EuGH fest: Nach Art 1 Abs 2 RL 87/357/EWG ist es nicht erforderlich, durch objektive und belegte Daten nachzuweisen, dass es mit Risiken wie der Gefahr des Erstickens, der Vergiftung, der Perforation oder des Verschlusses des Verdauungskanals verbunden sein kann, wenn Erzeugnisse zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden, die zwar keine Lebensmittel sind, bei denen jedoch aufgrund ihrer Form, ihres Geruchs, ihrer Farbe, ihres Aussehens, ihrer Aufmachung, ihrer Etikettierung, ihres Volumens oder ihrer Größe vorhersehbar ist, dass sie von den Verbrauchern, insb von Kindern, mit Lebensmitteln verwechselt werden und deshalb zum Mund geführt, gelutscht oder geschluckt werden. Die zuständigen nationalen Behörden müssen jedoch im Einzelfall prüfen, ob ein Erzeugnis die Voraussetzungen des Art 1 Abs 2 RL 87/357/EWG erfüllt, und begründen, warum dies der Fall ist.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 32634 vom 07.06.2022