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EuGH: Nachweispflichten für die Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung

Bearbeiter: Bence Komár

MwStSyst-RL: Art 131, Art 138 Abs 1

Abstract

Der EuGH hatte im Rahmen des gegenständlichen Vorabentscheidungsverfahrens über die Nachweise zu entscheiden, die Steuerbehörden für die Geltendmachung der Befreiung gem Art 138 Abs 1 MwStSyst-RL (ig Lieferung) vom Lieferer verlangen dürfen. Fraglich war, ob die Steuerbehörden eines Mitgliedstaates die Steuerbefreiung versagen dürfen, wenn der Lieferer zwar nicht nachgewiesen hat, dass die Gegenstände an einen steuerpflichtigen Empfänger geliefert wurden, aber die Behörden über jene Angaben verfügen, die für die Überprüfung dieses Umstandes erforderlich sind.

EuGH 29. 2. 2024, C-676/22, B2 Energy

Sachverhalt

Im Jahr 2015 lieferte die tschechische Gesellschaft, B2 Energy, Rapsöl nach Polen. Die gelieferten Gegenstände wurden physisch an andere Personen als jene, die B2 Energy in ihren eigenen Steuerunterlagen als tatsächliche Empfänger der Lieferung genannt hat, übergeben. Die Personen, die die Gegenstände physisch übernommen hatten, bestätigten den Empfang mit ihrem Stempel und ihrer Unterschrift auf internationalen Frachtbriefen. Die tschechische Steuerverwaltung versagte die Befreiung der gegenständlichen Lieferungen als ig Lieferungen mit der Begründung, B2 Energy habe nicht nachgewiesen, dass sie die Lieferung an eine in einem anderen Mitgliedstaat steuerpflichtige Person ausgeführt habe. Der Fall gelangte vor das Oberste Verwaltungsgericht Tschechiens, das den EuGH mit folgender Frage anrief:

Ist die Befreiung iSd Art 138 Abs 1 MwStSyst-RL zu versagen, wenn der Lieferer nicht nachgewiesen hat, dass die Gegenstände an einen steuerpflichtigen Empfänger geliefert wurden, obwohl die Steuerbehörde über jene Informationen verfügt, die erforderlich sind, um zu überprüfen, ob der tatsächliche Empfänger der Lieferung Steuerpflichtiger ist?

Entscheidung des EuGH

Die Steuerbefreiung für eine ig Lieferung wird in Art 138 Abs 1 MwStSyst-RL geregelt und setzt voraus, dass eine Lieferung nach Art 14 MwStSyst-RL vorliegt, deren Empfänger ein Steuerpflichtiger ist. Der Lieferer muss nachweisen, dass der Gegenstand in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert worden ist und dieser Gegenstand den Liefermitgliedstaat physisch auch verlassen hat (mVa EuGH 9. 2. 2017, C‑21/16, Euro Tyre, Rn 25). Der EuGH betont, dass keine zusätzliche (materielle) Voraussetzung für die Einstufung des Umsatzes als ig Lieferung durch die Mitgliedstaaten aufgestellt werden darf. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität erfordert zudem, dass die Befreiung gewährt wird, wenn deren materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, der Lieferer aber bestimmten formellen Anforderungen nicht nachgekommen ist (EuGH 9. 2. 2017, C‑21/16, Euro Tyre, Rn 36). Daher führen die in Art 138 Abs 1 MwStSyst-RL (in der auf den gegenständlichen Sachverhalt geltenden Fassung) genannten Voraussetzungen etwa nicht dazu, dass die physische Lieferung (Anm: gemeint ist wohl die physische Übergabe) der betreffenden Gegenstände an den in den Steuerunterlagen angegebenen Empfänger erfolgen soll.

In Bezug auf die Nachweismodalitäten führt der EuGH aus, dass es mangels entsprechender Bestimmungen in der MwStSyst-RL Sache der Mitgliedstaaten ist, die Bedingungen festzulegen, unter denen sie ua ig Umsätze befreien (s Art 131 MwStSyst-RL). Die Mitgliedstaaten müssen bei der Ausübung ihrer Befugnisse die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten, die Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind und zu denen insb die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit zählen (sowie der Grundsatz der steuerlichen Neutralität). Insoweit ist hervorzuheben, dass die Steuerbehörden im Hinblick auf die Mehrwertsteuerbefreiung alle in ihrem Besitz befindlichen Nachweise berücksichtigen müssen, um zu prüfen, ob diese Dokumente ggf das wahrscheinliche Vorliegen einer tatsächlichen Lieferung in einen anderen Mitgliedstaat untermauern können (EuGH 8. 11. 2018, C‑495/17, Cartrans Spedition, Rn 66 und 67). Um sein Recht auf Mehrwertsteuerbefreiung ausüben zu können, kann vom Steuerpflichtigen nicht verlangt werden, dass er in allen Fällen – zB auch wenn der Empfänger der betreffenden Gegenstände nicht namhaft gemacht worden ist – nachweist, dass der Empfänger Steuerpflichtiger ist. Ein solcher Nachweis kann bspw unterbleiben, wenn sich aus den tatsächlichen Umständen dennoch mit Sicherheit ergibt, dass der Empfänger zwangsläufig Steuerpflichtiger war (EuGH 9. 12. 2021, C‑154/20, Kemwater ProChemie, Rn 40). Bei Verletzung von formellen Anforderungen ist die Befreiung gem Art 138 Abs 1 MwStSyst-RL nur dann zu versagen, wenn die Unternehmereigenschaft des Empfängers aufgrund der der Steuerverwaltung bekannten Daten tatsächlich nicht überprüft werden kann. Fallbezogen argumentiert der EuGH, dass die Gegenstände, die von B2 Energy geliefert wurden, ihrer Art nach dafür bestimmt zu sein scheinen, im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit genutzt zu werden. Dies sei ein Indiz für die Unternehmereigenschaft des Empfängers. Letztendlich sei es Sache der nationalen Behörden, anhand aller verfügbaren Informationen zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen für die Befreiung erfüllt werden.

Conclusio

Die vorliegende Entscheidung des EuGH ist konsequent und kann als Weiterführung der Rsp-Linie zu seinem früheren Urteil in der Rs Kemwater ProChemie gesehen werden. Dort hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt sind, wenn der Lieferer zwar nicht namhaft gemacht worden ist, aber die Steuerbehörde über alle Angaben verfügt, die für die Feststellung der Steuerpflicht des Lieferers erforderlich sind. Im vorliegenden Fall urteilt der EuGH, dass die Befreiung nach Art 138 Abs 1 MwStSyst-RL – welche die Steuerpflicht des Empfängers verlangt – zu gewähren ist, wenn die Steuerbehörde über die Angaben verfügt, die für die Prüfung der Unternehmereigenschaft des Empfängers erforderlich sind.

Durch die RL (EU) 2018/1910 des Rates v 4. 12. 2018 (ABl L 2018/311, 3) wurde eine zusätzliche Voraussetzung für die Befreiung gem Art 138 Abs 1 MwStSyst-RL eingeführt. Der Empfänger der Lieferung muss dem Lieferer seine MwSt-Identifikationsnummer (UID-Nr) mitteilen, welche der Empfänger im Bestimmungsland hat. Eine Steuerbefreiung gem Art 138 Abs 1 MwStSyst-RL wäre nach geltender Rechtslage somit nicht mehr möglich, wenn zB der Empfänger der betreffenden Gegenstände dem Lieferer nicht namhaft gemacht worden ist (im Gegensatz zum Argument des EuGH in Rn 37 des vorliegenden Urteils).

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35671 vom 18.07.2024