News

EuGH: Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts nach nationalem Zivilrecht und Vorsteuerabzug

Bearbeiter: Bence Péter Komár

MwStSyst-RL: Art 167, 168 lit a, 178 lit a, 273

Abstract

Art 83 § 1 des polnischen Zivilgesetzbuches lautet: „Eine Willenserklärung, die gegenüber einem anderen mit dessen Einverständnis zum Schein abgegeben wird, ist nichtig.“ Der EuGH hatte sich im gegenständlichen Fall mit der Frage auseinanderzusetzen, ob dem Steuerpflichtigen das Recht auf VSt-Abzug allein deshalb versagt werden darf, weil das zugrundeliegende Rechtsgeschäft nach nationalem Zivilrecht als Scheingeschäft eingestuft wird und nichtig ist, ohne dass dargetan werden muss, dass tatsächlich kein Umsatz bewirkt wurde, oder dass ein tatsächlich bewirkter Umsatz auf einer Mehrwertsteuerhinterziehung oder einem Rechtsmissbrauch beruht.

EuGH 25. 5. 2023, C‑114/22, W. sp. z.o.o.

Sachverhalt

Am 27. 10. 2015 stellte die M. sp. z o.o. S.K.A. eine Rechnung über einen steuerbaren und -pflichtigen Markenverkauf an W. sp. z.o.o. () aus, die die Mehrwertsteuer erklärte und entrichtete. nahm hinsichtlich dieser Rechnung VSt-Abzug in Anspruch. Am 20. 10. 2017 erging ein Bescheid der zuständigen polnischen FinVw gegen , in dem die FinVw den VSt-Abzug mit Verweis auf Art 88 Abs 3a Z 4 lit c polnisches MwStG versagte. Leg cit sieht einen Ausschluss des VSt-Abzugs vor, wenn eine Rechnung vorgelegt wird, die Handlungen belegt, welche nach polnischem Zivilrecht nichtig sind.1 Die FinVw war der Meinung, dass der in Rede stehende Markenverkauf iSd Art 58 § 2 polnisches Zivilgesetzbuch nichtig war. Dieser Bescheid wurde mit Bescheid des Direktors der FinVw in zweiter Instanz bestätigt.2 Gegen diesen Bescheid erhob erfolgreich Klage beim zuständigen VwG. Der Direktor der FinVw legte gegen diese Entscheidung beim Obersten Verwaltungsgericht Kassationsbeschwerde ein. Das Oberste Verwaltungsgericht hegte Zweifel über die Unionsrechtskonformität der Bestimmung (Art 88 Abs 3a Z 4 lit c polnisches MwStG), die allein bei zivilrechtlicher Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts den Verlust des VSt-Abzugs vorsieht.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH führt zunächst aus, dass der VSt-Abzug ein fundamentaler Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist und grds nicht eingeschränkt werden darf, sofern die hierfür erforderlichen formellen und materiellen Anforderungen eingehalten werden (mit Verweis auf EuGH 28. 7. 2011, C‑274/10, Kommission/Ungarn, Rn 42 f und weitere Rsp). Erstens muss der VSt-Abzug von einem „Steuerpflichtigen“ iSd MwStSyst-RL beansprucht werden. Zweitens müssen die Eingangsumsätze (diese Umsätze sollen das Recht auf VSt-Abzug begründen) mit den besteuerten Ausgangsumsätzen dieses Steuerpflichtigen in Verbindung stehen. Drittens müssen die Eingangsumsätze von einem ebenfalls Steuerpflichtigen iSd der MwStSyst-RL geliefert oder erbracht worden sein. Die Versagung des Rechts auf den VSt-Abzug ist ausschließlich in zwei Fällen zulässig: (i) Es liegt ein fiktiver Umsatz vor oder (ii) der VSt-Abzug wird in einer Weise geltend gemacht, die eine Mehrwertsteuerhinterziehung oder einen Rechtsmissbrauch begründet.

Aus Art 167 iVm Art 63 MwStSyst-RL leitet der Gerichtshof ab, dass das Recht auf VSt-Abzug grds vom Nachweis der tatsächlichen Bewirkung des (zur Begründung des VSt-Abzugs angeführten) Umsatzes abhängt (jüngst EuGH 29. 9. 2022, C‑235/21, Raiffeisen Leasing, Rn 40). Ohne tatsächliche Bewirkung dieses Umsatzes kann kein Recht auf VSt-Abzug entstehen (fiktiver Umsatz). Ein fiktiver Umsatz kann auch deshalb nicht zum VSt-Abzug berechtigen, weil er in keinerlei Verbindung zu den auf der Ausgangsstufe versteuerten Umsätzen stehen kann (8. 5. 2019, C‑712/17, EN.SA., Rn 24 f). Es liegt beim Steuerpflichtigen zu beweisen, dass der Umsatz, welcher zum VSt-Abzug berechtigen soll, tatsächlich ausgeführt wurde.

Das Recht auf VSt-Abzug ist auch dann zu versagen, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass es in einer Weise geltend gemacht wird, die eine Steuerhinterziehung oder einen Rechtsmissbrauch darstellt (vgl ua EuGH 1. 12. 2022, C‑512/21, Aquila Part Prod Com, Rn 27). Die Versagung des Rechts auf VSt-Abzug ist eine Ausnahme vom fundamentalen Grundsatz, den dieses Recht darstellt. Es obliegt daher den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten, die objektiven Umstände rechtlich hinreichend nachzuweisen, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige eine Mehrwertsteuerhinterziehung begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen war.

Die Bestimmung, wonach ein VSt-Abzug allein wegen zivilrechtlicher Nichtigkeit versagt werden darf, ohne dass dargetan werden muss, dass ein fiktiver Umsatz vorliegt oder dass der tatsächlich bewirkte Umsatz auf einer Mehrwertsteuerhinterziehung oder einem Rechtsmissbrauch beruht, verstößt gegen Art 167, 168 lit a, 178 lit a und 273 MwStSyst-RL.

Conclusio

Der EuGH widmet sich im vorliegenden Urteil einmal mehr der Frage nach dem Verhältnis zwischen (nationalem) Zivilrecht und der Mehrwertsteuer. Einmal mehr stellt das Höchstgericht fest, dass Vorschriften des nationalen Zivilrechts für die Mehrwertsteuer nicht direkt maßgebend sind. So darf die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts nach nationalem Zivilrecht nicht automatisch zum Ausschluss des VSt-Abzugs führen. Nur wenn die Gesichtspunkte, anhand deren ein Rechtsgeschäft nach nationalem Zivilrecht als nichtig eingestuft wird, mit jenen Gesichtspunkten zusammenfallen, anhand deren ein mehrwertsteuerpflichtiger Vorgang entweder als fiktiver Umsatz einzustufen ist oder er auf einer Mehrwertsteuerhinterziehung oder einem Rechtsmissbrauch beruht, darf der VSt-Abzug versagt werden. Hätte die zuständige FinVw (und nicht erst die polnische Regierung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens) im vorliegenden Fall dargetan, dass eine Markenübertragung tatsächlich nicht durchgeführt wurde, weil sich die Parteien trotz des Abschlusses eines Kaufvertrags in Wirklichkeit weiterhin so verhielten, als wäre der Veräußerer immer noch Inhaber der in Rede stehenden Marken und nur deren Fremdbesitzer, so wäre der VSt-Ausschluss zulässig gewesen. Genauso wäre es rechtskonform gewesen, den VSt-Abzug mit der Begründung zu versagen, dass der Markenverkauf eine rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung darstellt, der allein zu dem Zweck erfolgte, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, dessen Gewährung den Zielen der MwStSyst-RL zuwiderliefe (vgl ua den Beschluss EuGH 9. 1. 2023, C‑289/22, A.T.S. 2003, Rn 41).

1

Art 88 Abs 3a Z 4 lit c polnisches Mehrwertsteuergesetz verweist auf Art 58 und Art 83 polnisches Zivilgesetzbuch.


2

Der Direktor hatte sich bei der Begründung auf Art 83 polnisches Zivilgesetzbuch gestützt. Diese Bestimmung sieht gleich wie Art 58 polnisches Zivilgesetzbuch die zivilrechtliche Nichtigkeit eines (zum Schein) abgeschlossenen Rechtsgeschäfts vor.


Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 34267 vom 13.07.2023