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EuGH: Ort der steuerlichen Anknüpfung bei Übertragung von Treibhausgaszertifikaten

Bearbeiter: Rainer Borns

MwStSyst-RL: Art 44, Art 138 Abs 1

UStG 1994: § 3a Abs 6

Abstract

Der EuGH hatte zu entscheiden, ob Art 44 MwStSyst-RL dahingehend auszulegen ist, dass sich der Leistungsort einer Dienstleistung nach dem Sitz des Dienstleistungserbringers richtet, wenn der Erbringer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch diese Dienstleistung an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat. Laut dem EuGH ist eine derartige Auslegung aufgrund des klaren Wortlautes und aufgrund der Systematik von Art 44 MwStSyst-RL nicht möglich.

EuGH 27. 10. 2022, C-641/21, Climate Corporation Emissions Trading GmbH

Sachverhalt

Die Climate Corporation Emissions Trading GmbH (in weiterer Folge: Climate Corporation GmbH) mit Sitz in Baden (Österreich) übertrug gegen Entgelt Treibhausgaszertifikate an die Bauduin GmbH mit Sitz in Hamburg (Deutschland). Das FA stufte diese Übertragungen mit Umsatzsteuerbescheid 2010 als steuerpflichtige Lieferungen ein. Da die Bauduin GmbH als „Missing Trader“ an Mehrwertsteuerhinterziehungen beteiligt gewesen war und die Climate Corporation GmbH von dieser Hinterziehung zumindest hätte wissen müssen, versagte das FA die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen (ig Lieferungen). Gegen diesen Bescheid erhob die Climate Corporation GmbH Beschwerde. Das BFG führte aus, dass die Übertragung von Treibhausgaszertifikaten nicht als Lieferung, sondern als sonstige Leistung zu qualifizieren ist. Daher ist die Dienstleistung grundsätzlich nicht in Österreich, sondern am Sitz des Leistungsempfängers – also in Deutschland – steuerbar. Das BFG stellte zudem fest, dass die Climate Corporation GmbH hätte wissen müssen, dass die an die Bauduin GmbH verkauften Zertifikate zu betrügerischen Zwecken verwendet würden. Das BFG legte daraufhin dem EuGH folgende Frage vor:

„Ist die Mehrwertsteuerrichtlinie so auszulegen, dass die nationalen Behörden und Gerichte den Ort einer Dienstleistung, der formal nach dem geschriebenen Recht in dem anderen Mitgliedsstaat, in welchem sich der Sitz des Leistungsempfängers befindet, liegt, als im Inland liegend ansehen können, wenn der leistungserbringende inländische Steuerpflichtige hätte wissen müssen, dass er sich durch die erbrachte Dienstleistung an einer im Rahmen einer Leistungskette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt?“ (EuGH27. 10. 2022, C-641/21, Climate Corporation Emissions Trading GmbH, Rn 21.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH stellt zuerst fest, dass es sich bei entgeltlichen Übertragungen von Treibhausgasemissionszertifikaten um Dienstleistungen handelt (siehe auch EuGH 8. 12. 2016, C-453/15, A und B). Art 44 MwStSyst-RL sieht allgemeine Regeln für den Leistungsort von Dienstleistungen vor. Demnach gilt als Ort einer Dienstleistung an einen Unternehmer der Ort, an dem dieser Unternehmer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Bezüglich der Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten gibt es keine besonderen Leistungsortbestimmungen. Im vorliegenden Fall liegt der Sitz des Leistungsempfängers in Hamburg. Daher liegt der Leistungsort in Deutschland. An dieser Stelle gilt es zu klären, ob trotz des eindeutigen Wortlautes von Art 44 MwStSyst-RL der Ort eines Umsatzes als im Mitgliedstaat des Dienstleistungserbringers liegend angesehen werden kann, wenn dieser Umsatz Teil einer Mehrwertsteuerhinterziehung ist.

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die nationalen Behörden und Gerichte in der MwStSyst-RL vorgesehene Rechte, wie das Recht auf Steuerbefreiung einer ig Lieferung, die betrügerisch oder missbräuchlich geltend gemacht werden, versagen können. Dies gilt nicht nur dann, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht, sondern auch, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich an einer Steuerhinterziehung beteiligt (vgl EuGH 7. 12. 2010, C-285/09, R.; EuGH 18. 12. 2014, C-131/13, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti). Die damals behandelte Rechtsache unterscheidet sich aber insofern vom nunmehr vorliegenden Sachverhalt, als sie nicht die Geltendmachung eines Rechts, wie des Rechts auf Steuerbefreiung, sondern die Bestimmung des Ortes eines steuerbaren Umsatzes betrifft. Eine Auslegung, nach der im Fall von Steuerhinterziehung der Ort der Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat als dem nach den Vorschriften (Art 44 MwStSyst-RL) vorgesehenen Mitgliedstaat liegend angesehen werden kann, steht im Widerspruch zu den Zielen und der allgemeinen Systematik dieser Vorschrift. Durch eine derartige Auslegung würde die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten angepasst werden. Im vorliegenden Fall würde das Besteuerungsrecht ohne Rechtsgrundlage auf den Mitgliedstaat übertragen werden, in dem der Erbringer der Dienstleistung ansässig ist (Österreich).

Zwar weist eine grenzüberschreitend erbrachte Dienstleistung Ähnlichkeiten mit einer ig Lieferung auf, allerdings sind gegenwärtig ig Lieferungen und grenzüberschreitende Dienstleistungen unterschiedlich geregelt. Während eine ig Lieferung im Staat des Beginns der Versendung steuerbar, aber echt steuerbefreit ist, wird der ig Erwerb im Eingangsmitgliedstaat steuerpflichtig. Der Mitgliedstaat des Beginns der Versendung kann gegebenenfalls die Steuerbefreiung – bei Anwendbarkeit des Art 131 MwStSyst-RL – versagen. Diese Regelungen sind nicht auf grenzüberschreitende Dienstleistungen anzuwenden. Bei diesen kommt nur einem Mitgliedstaat ein Besteuerungsrecht zu. Art 44 MwStSyst-RL räumt dem Staat, in dem der Erbringer einer Dienstleistung ansässig ist, keine Befugnis ein, Mehrwertsteuer zu erheben. Folglich kann die Rsp, die zu ig Lieferungen ergangen ist, nicht auf grenzüberschreitende Dienstleistungen angewendet werden. Selbst wenn der Dienstleistungserbringer von einer Mehrwertsteuerhinterziehung wusste, bleibt die Leistungsortregelung des Art 44 MwStSyst-RL anwendbar.

Conclusio

Diese Entscheidung unterstreicht die systematischen Unterschiede von innergemeinschaftlichen Lieferungen und grenzüberschreitenden sonstigen Leistungen. Während eine ig Lieferung unmittelbar mit einem ig Erwerb einhergeht, gibt es ein derartiges Begriffspaar bei grenzüberschreitenden sonstigen Leistungen nicht. Die ig Lieferung ist steuerbar, aber steuerbefreit. Demgegenüber führt der ig Erwerb im anderen Mitgliedstaat zu einer Steuerpflicht. Aus dieser Systematik ergibt sich die Möglichkeit, das Recht auf Steuerbefreiung im Staat der ig Lieferung zu versagen, wenn der Lieferer von einer Steuerhinterziehung wusste oder hätte wissen müssen (vgl EuGH 7. 12. 2010, C-285/09, R.; EuGH 18. 12. 2014, C-131/13, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti). Da eine grenzüberschreitende sonstige Leistung an einen Unternehmer gem Art 44 MwStSyst-RL ausschließlich am Empfängerort steuerbar ist, gibt es keine Möglichkeit, eine Steuerbarkeit im Mitgliedstaat des Leistungserbringers zu begründen.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 33629 vom 03.02.2023