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EuGH: Sanktion wegen unlauterer Geschäftspraktiken – ne bis in idem

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

GRC: Art 50, Art 52

Gem Art 50 GRC darf „[n]iemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur iS dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat. Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im Ausgangsverfahren sind nach der Rsp drei Kriterien maßgebend: die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, die Art der Zuwiderhandlung und der Schweregrad der Sanktion. Dabei ist Art 50 GRC nicht nur auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen anzuwenden, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern auch – unabhängig von der innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen Kriterien strafrechtlicher Natur sind. Auch wenn daher eine Geldbuße, die von der nationalen Verbraucherschutzbehörde gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängt wird, in den nationalen Rechtsvorschriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird, stellt sie eine strafrechtliche Sanktion iSd Art 50 GRC dar, wenn sie eine repressive Zielsetzung verfolgt und einen hohen Schweregrad aufweist.

Wurde eine juristische Person wegen derselben Tat (hier: unlautere Geschäftspraktiken) in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt, darf eine Geldbuße strafrechtlicher Natur gegen diese Person selbst dann nicht aufrechterhalten werden, wenn die Verurteilung in dem anderen Mitgliedstaat nach Verhängung der Geldbuße erfolgt ist, aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Verhängung der Geldbuße rechtskräftig geurteilt worden ist.

Art 52 Abs 1 GRC lässt eine Einschränkung der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem (Art 50 GRC) zu, um eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen wegen derselben Tat zu ermöglichen; dafür müssen alle Voraussetzungen erfüllt sein, die Art 52 Abs 1 GRC vorsieht und von der Rsp näher bestimmt wurden, nämlich dass diese Kumulierung keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellt, dass es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und dass die betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden.

EuGH 14. 9. 2023, C-27/22, Volkswagen Group Italia und Volkswagen Aktiengesellschaft

Zu einem italienischen Vorabentscheidungsersuchen.

Entscheidung

Bei einer Kumulierung der Sanktionen käme im Ausgangsfall zu der Geldbuße iHv 1 Mrd Euro, die in Deutschland verhängt wurde, eine Geldbuße von 5 Mio Euro nach der streitigen Entscheidung in Italien hinzu. Angesichts dessen, dass die VWAG die Geldbuße iHv 1 Mrd Euro akzeptiert hat, ist nicht ersichtlich, dass eine Kumulierung dieser Sanktionen (plus 0,5 %) eine übermäßige Belastung darstellen würde. Unter diesen Umständen ist es unerheblich, dass die höchstmögliche Sanktion nach den einschlägigen Rechtsvorschriften verhängt wurde.

Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung (Vorhersehbarkeit) hat das vorlegende Gericht zwar keine deutschen oder italienischen Bestimmungen angeführt, die bei einem Verhalten wie hier die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen in verschiedenen Mitgliedstaaten speziell vorsehen; jedoch lässt nichts die Annahme zu, dass die VWAG nicht hätte vorhersehen können, dass ihr Verhalten in mindestens zwei Mitgliedstaaten zu Verfahren und Sanktionen führen könnte. Die jeweilige Klarheit und Präzision der jeweiligen Sanktionsnormen scheint im Übrigen nicht in Frage gestellt worden zu sein.

Zur dritten Voraussetzung (Koordinierung der Verfahren) zeigt sich, dass zwischen der deutschen Staatsanwaltschaft und der italienischen Behörde keine Koordinierung stattgefunden hat, obwohl die Verfahren einige Monate lang parallel geführt wurden und die deutsche Staatsanwaltschaft von der streitigen Entscheidung Kenntnis hatte. Die VO (EG) 2006/2004 [über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden] (nunmehr: VO (EU) 2017/2394) sah zwar ein Instrument für die Zusammenarbeit und Koordinierung der nationalen Verbraucherschutzbehörden vor, die deutsche Staatsanwaltschaft gehört jedoch nicht zu diesen Behörden. Die deutsche Staatsanwaltschaft scheint zwar Schritte bei der Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust) unternommen zu haben, um eine Kumulierung von Strafverfahren gegen die VWAG in mehreren Mitgliedstaaten zu verhindern, aus den vorgelegten Informationen ergibt sich aber, dass die italienischen Behörden auf die Strafverfolgung gegen die VWAG nicht verzichtet und an diesem Koordinierungsversuch bei Eurojust nicht mitgewirkt haben.

Dennoch kann auf eine Koordinierung von Verfahren oder Sanktionen, die denselben Sachverhalt betreffen, nicht verzichtet werden, auch wenn sie sich als schwieriger erweisen mag, wenn die betreffenden Behörden zu verschiedenen Mitgliedstaaten gehören. Anders als die italienische Regierung meint, reicht es für eine Kumulierung von Sanktionen wegen derselben Tat nicht aus, dass der Grundsatz ne bis in idem in seiner „materiellen Dimension“ beachtet wird, dh die Gesamtsanktion nicht offensichtlich unverhältnismäßig ist. Die Voraussetzungen für eine Kumulierung, die von der Rsp aufgestellt worden sind, grenzen die Möglichkeit ein, die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem einzuschränken, und können nicht von Fall zu Fall variieren.

Die vorgelegten Akten enhtalten auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sich im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits die Gefahr verwirklichen könnte, dass jemand eine strafrechtliche Verurteilung in einem Mitgliedstaat allein zu dem Zweck anstrebt, sich vor Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat zu schützen.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 34530 vom 22.09.2023