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EuGH: Sind Aphrodisiaka Nahrungsmittel iSd MwStSystRL?

Bearbeiter: Christian Knotzer

MwStSyst-RL: Art 98

MwStSyst-RL (Nr 1): Anhang III

Abstract

Der EuGH beschäftigte sich in diesem Urteil mit der Auslegung der Begriffe „Nahrungsmittel“ und „üblicherweise als Zusatz oder als Ersatz für Nahrung[smittel] verwendete Erzeugnisse“ iSd Anhang III Nr 1 der MwStSyst-RL. Diese Begriffe umfassen alle Erzeugnisse, die Nährstoffe enthalten, die für den menschlichen Organismus erforderlich sind und verzehrt werden, um ihn mit diesen Nährstoffen zu versorgen. Nur auf derartige Erzeugnisse kann ein ermäßigter Steuersatz angewendet werden.

EuGH 1. 10. 2020, C-331/19, Staatssecretaris van Financiën

Sachverhalt

Die Mehrwertsteuerpflichtige vertrieb in ihrem Geschäft in den Niederlanden Erotikartikel (ua oral einzunehmende Kapseln, Tropfen, Puder und Sprays), die als das sexuelle Verlangen stimulierende Aphrodisiaka präsentiert wurden. Auf diese Artikel wandte sie den für Nahrungsmittel geltenden ermäßigten Mehrwertsteuersatz an. Die niederländischen Steuerbehörden verweigerten jedoch die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes, da es sich nicht um „Nahrungsmittel“ handle. Nachdem das Gericht erster Instanz der Steuerpflichtigen Recht gab, wandte sich der Staatssekretär für Finanzen an den Hoge Raad der Niederlande. Dieser unterbrach das laufende Verfahren und richtete ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Die Vorlagefragen behandelten im Wesentlichen die Frage der Auslegung der Begriffe „Nahrungsmittel“ und „üblicherweise als Zusatz oder als Ersatz für Nahrung[smittel] verwendete Erzeugnisse“ iSd Anhang III Nr 1 der MwStSyst-RL.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH stellt zunächst fest, dass die auszulegenden Begriffe weder in der MwStSyst-RL noch in der DVO definiert sind. Deshalb sind sie entsprechend dem Sinn der sie bildenden Worte nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen. Dabei ist auch der Zusammenhang in dem diese Begriffe verwendet werden sowie die Ziele der Regelung zu berücksichtigen. Der EuGH widmet sich in dem Urteil daher zunächst einer grammatikalischen, sodann systematischen und schließlich teleologischen Interpretation der Begriffe.

Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch sind „Nahrungsmittel“ grundsätzlich alle Erzeugnisse, die Nährstoffe zum Aufbau, zur Energiezufuhr und zur Regulierung des menschlichen Organismus enthalten, die zur Erhaltung, zum Betrieb und zur Entwicklung dieses Organismus erforderlich sind und verzehrt werden, um ihn mit diesen Nährstoffen zu versorgen. Diese ernährungsbezogene Funktion ist auch für die Interpretation des Begriffs „üblicherweise als Zusatz oder als Ersatz für Nahrung[smittel] verwendete Erzeugnisse“ maßgeblich. Auf eine etwaige gesundheitsfördernde Wirkung, einen gewissen Genuss oder den gesellschaftlichen Zusammenhang beim Verzehr kommt es dabei nicht an. Es ist demnach auch unerheblich, ob die Einnahme des fraglichen Erzeugnisses positive Auswirkungen auf das sexuelle Verlangen der einnehmenden Person hat.

In systematischer Betrachtung sind Lieferungen, die einem ermäßigten Steuersatz unterliegen, im System der MwSt, lediglich Ausnahmen vom Grundsatz der Anwendung des normalen Mehrwertsteuersatzes. Die Begriffe, für welche derartige Ausnahmen vorgesehen werden, sind daher eng auszulegen.

Schließlich beschäftigt sich der EuGH mit dem Ziel des Anhang III der MwStSyst-RL. Zum einen soll auf grundlegende Güter sowie auf Gegenstände und Dienstleistungen, die sozialen oder kulturellen Zielen dienen, ein ermäßigter Steuersatz angewendet werden können. Zum anderen sollen die Kosten für bestimmte, als unentbehrlich erachtete Gegenstände gesenkt werden um dem Endverbraucher den Zugang zu diesen Gegenständen zu erleichtern.

Demnach fällt jedes für den menschlichen Verzehr bestimmte Erzeugnis, das dem menschlichen Organismus Nährstoffe liefert, die für die Erhaltung, den Betrieb und die Entwicklung dieses Organismus erforderlich sind, unter die auszulegenden Begriffe, auch wenn der Verzehr dieses Erzeugnisses auch andere Wirkungen erzeugen soll. Ein Erzeugnis, das keine Nährstoffe enthält und dessen Verzehr nur dazu dient, andere Wirkungen zu erzeugen, kann nicht in diese Kategorie fallen. Der EuGH bezweifelt zwar, dass es sich bei den fraglichen Aphrodisiaka demnach um „Nahrungsmittel“ im Sinne obiger Ausführungen handelt, erlegt es aber dem Hoge Raad auf, dies zu prüfen.

Conclusio

Mitgliedstaaten können auf Lieferungen von Nahrungsmitteln einen ermäßigten MwSt-Satz anwenden. Zu Nahrungsmitteln gehören alle Erzeugnisse, die Nährstoffe enthalten und in erster Linie verzehrt werden, um den menschlichen Organismus mit Nährstoffen zu versorgen. Auf ein Aphrodisiakum, welches keine Nährstoffe enthält und ausschließlich das sexuelle Verlangen stimulieren soll, kann daher kein ermäßigter Steuersatz angewendet werden.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 29913 vom 10.11.2020