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EuGH: Steuerschuld kraft Rechnungslegung hängt von der Gefährdung des Steueraufkommens ab

Bearbeiter: Rainer Borns

MwStSyst-RL: Art 193, Art 203

UStG 1994: § 11

Abstract

Der EuGH hatte zu entscheiden, ob eine Steuerschuld kraft Rechnungslegung gem Art 203 MwStSyst-RL auch dann entsteht, wenn der Steuerschuldner ausschließlich an Endverbraucher leistet. Laut EuGH liegt der Zweck des Art 203 MwStSyst-RL darin, eine Gefährdung des Steueraufkommens zu verhindern.

EuGH 8. 12. 2022, C-378/21, P GmbH

Sachverhalt

Die P GmbH ist die Beschwerdeführerin (Bf) des Ausgangsverfahrens und betreibt einen Indoor-Spielplatz. Die Kunden der Bf sind ausschließlich Endverbraucher. Ihnen wird 20 % Umsatzsteuer für die Benutzung des Spielplatzes in Rechnung gestellt. Da die von der Bf erbrachten Dienstleistungen nicht dem Steuersatz von 20 %, sondern von 13 % unterliegen, hat sie die Mehrwertsteuererklärung berichtigt, um die zu viel bezahlte Mehrwertsteuer vom FA gutgeschrieben zu bekommen. Das FA verweigerte die Gutschrift mit der Begründung, dass die Bf nach nationalem Recht (§ 11 Abs 12 UStG) verpflichtet ist, die höhere Mehrwertsteuer zu entrichten. Erst wenn die Rechnungen berichtigt sind, kann eine Gutschrift erfolgen. Zudem würde die Bf durch eine Gutschrift ungerechtfertigt bereichert werden, weil die Kunden die zu hoch ausgewiesene Umsatzsteuer getragen haben. Gegen diesen Bescheid wurde Beschwerde erhoben. Da § 11 Abs 12 UStG auf Art 203 MwStSyst-RL fußt, wonach die Mehrwertsteuer von jeder Person geschuldet wird, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist, setzte das BFG das Verfahren aus und stellte dem EuGH die Vorlagefrage, ob Art 203 MwStSyst-RL auch dann anwendbar ist, wenn ausschließlich an Endverbraucher geleistet wird. Sollte diese Frage bejaht werden, wird dem EuGH zudem die Frage vorgelegt, ob eine Berichtigung der Rechnung unterbleiben kann, wenn diese faktisch unmöglich ist, und ob es einer Gutschrift entgegensteht, dass die Endverbraucher die Steuer getragen haben, weshalb sich der Steuerpflichtige durch Berichtigung der Steuer bereichern würde.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH weist darauf hin, dass für die Steuerschuld grundsätzlich Art 193 MwStSyst-RL maßgeblich ist. Demnach schuldet der Steuerpflichtige, der eine Leistung steuerpflichtig erbringt, die Mehrwertsteuer. Art 203 MwStSyst-RL unterscheidet sich insofern von Art 193 MwStSyst-RL, als Art 193 MwStSyst-RL den Fall betrifft, dass der Steuerpflichtige eine Rechnung mit korrektem Mehrwertsteuerbetrag ausgestellt hat. Daraus folgt, dass Art 203 MwStSyst-RL nur auf eine Steuerschuld anwendbar ist, die höher ist als die Steuerschuld iSd Art 193 MwStSyst-RL. Wurde ein Teil der Mehrwertsteuer zu Unrecht in Rechnung gestellt, kommt Art 203 MwStSyst-RL nur bezüglich des Teils der Mehrwertsteuer zur Anwendung, der den zutreffend in Rechnung gestellten Betrag (Art 193 MwStSyst-RL) übersteigt. Zudem geht aus der Rsp des Gerichtshofes hervor, dass durch diese Bestimmung eine Gefährdung des Steueraufkommens verhindert werden soll (EuGH 8. 4. 2019, C-712/17, EN.SA). Gäbe es keine Steuerschuld kraft Rechnungslegung, würde der Steuerschuldner den gesetzlich vorgeschriebenen Steuersatz schulden, auch wenn eine höhere Steuer auf der Rechnung ausgewiesen würde. Demgegenüber könnte allerdings der Leistungsempfänger die in Rechnung gestellte Steuer im Wege des Vorsteuerabzuges geltend machen. Dadurch würde es zu einer Gefährdung des Steueraufkommens kommen. Im gegebenen Fall hat das vorlegende Gericht die Gefährdung des Steueraufkommens mit der Begründung ausgeschlossen, dass die Kunden der Bf ausschließlich Endverbraucher gewesen sind, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind. Daher stellt der EuGH fest, dass in einem solchen Fall Art 203 MwStSyst-RL nicht anzuwenden ist. Ein Steuerpflichtiger, der ausschließlich an Endverbraucher leistet, schuldet den zu Unrecht in Rechnung gestellten Teil der Mehrwertsteuer daher nicht.

Conclusio

Die Entscheidung des EuGH überzeugt vor dem Hintergrund des Telos des Art 203 MwStSyst-RL. Eine Steuerschuld kraft Rechnungslegung soll eine Gefährdung des Steueraufkommens verhindern. Daher erhält der Steuerschuldner die zu hoch ausgewiesene Steuer erst dann vom FA zurück, wenn er die Rechnung berichtigt. Dadurch wird der Vorsteuerabzug durch den Empfänger der Lieferung/Leistung auf den berichtigten Steuersatz beschränkt, wodurch eine Gefährdung des Steueraufkommens verhindert wird. Aufgrund der Tatsache, dass eine Gefährdung bei Leistungen an Endverbraucher nicht möglich ist, weil diese keinen Vorsteuerabzug geltend machen können, kommt es in solchen Fällen zu keiner Steuerschuld kraft Rechnungslegung. Auf die Tatsache, dass der Steuerschuldner durch die Steuergutschrift bereichert wird, weil letztlich der Endverbraucher die zu hoch bemessene Steuer getragen hat, ist der Gerichtshof nicht eingegangen. Folglich ist nicht davon auszugehen, dass der Steuerschuldner die Gutschrift an die Konsumenten weitergeben muss. Art 203 MwStSyst-RL wird durch § 11 Abs 12 UStG umgesetzt. Vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH muss § 11 Abs 12 UStG unionsrechtskonform ausgelegt (teleologisch reduziert) werden, sodass keine Steuerschuld kraft Rechnungslegung entsteht, wenn keine Steuergefährdung gegeben ist. Um den zu hoch ausgewiesenen Steuersatz gutgeschrieben zu bekommen, bedarf es folglich keiner Rechnungsberichtigung.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 33633 vom 06.02.2023