News

EuGH: Steuerschuldnerschaft bei unbefugter Rechnungsausstellung

Bearbeiter: Bence Péter Komár

MwStSyst-RL: Art 9, 203

Abstract

Der EuGH hatte im vorliegenden Fall zwei Fragen zu entscheiden: Erstens äußerte er sich zur Frage, wer als Steuerschuldner gem Art 203 MwStSyst-RL in Frage kommt, wenn ein Arbeitnehmer im Namen seines Arbeitgebers betrügerisch falsche Rechnungen ausstellt. Zweitens wurde der EuGH gefragt, ob dem Arbeitgeber die Nichteinhaltung der erforderlichen Sorgfalt bei der Aufsicht über den Arbeitnehmer vorgeworfen werden kann. Dies hätte zur Folge, dass der Arbeitgeber, in dessen Namen falsche Rechnungen durch den Arbeitnehmer ausgestellt wurden, zum Steuerschuldner iSd Art 203 MwStSyst-RL wird.

EuGH 30.1.2024, C-442/22, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Lublinie

Sachverhalt

Die Gesellschaft betrieb im streitgegenständlichen Zeitraum eine Tankstelle, die von der Arbeitnehmerin P. K. geleitet wurde. P. K. stellte Rechnungen im Namen der Gesellschaft aus, in denen ein MwSt-Betrag iHv EUR 319.254,00 ausgewiesen war. Den Rechnungen lag kein Leistungsaustausch zugrunde. Sie wurden von P. K. ohne Zustimmung und Wissen der Geschäftsführung von der Gesellschaft ausgestellt, damit die Empfänger der Rechnungen eine MwSt-Erstattung erschleichen konnten. P. K. wies die Gesellschaft als Ausstellerin der streitigen Rechnungen aus. Aufgrund ihrer Befugnisse konnte P. K. tatsächlich ohne die Zustimmung der Geschäftsführung oder Buchhaltung Rechnungen ausstellen. Dies war auch bewusst. Nach einer Steuerprüfung erließ die zuständige Behörde einen Bescheid gegen die Gesellschaft , mit dem die von geschuldete MwSt festgesetzt wurde. Der Bescheid wurde von der FinVw und dem im späteren Verfahren erstinstanzlichen Gericht bestätigt. Dagegen legte die Gesellschaft Kassationsbeschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht in Polen ein. Dieses fragte den EuGH, ob der Arbeitnehmer selbst oder der Arbeitgeber in dessen Namen eine Rechnung ausgestellt wird, die MwSt schuldet, wenn der Arbeitnehmer ohne das Wissen und die Zustimmung des Arbeitgebers eine falsche Rechnung mit dessen Angaben ausstellt. In diesem Zusammenhang fragte das vorlegende Gericht auch, ob es erheblich ist, dass dem Arbeitgeber die Nichteinhaltung der erforderlichen Sorgfalt bei der Aufsicht über den Arbeitnehmer vorgeworfen werden kann.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH weist zunächst auf den Zweck des Art 203 MwStSyst-RL hin. Die Bestimmung soll der Gefährdung des Steueraufkommens entgegenwirken, die sich aus der Geltendmachung des Vorsteuerabzugs ergeben könnte. Deswegen schuldet der Aussteller einer Rechnung, in der ein MwSt-Betrag ausgewiesen ist, die MwSt unabhängig von einem etwaigen Verschulden. Art 203 MwStSyst-RL verwendet den Ausdruck „jede Person“. Dies deutet darauf hin, dass grds auch eine gem Art 9 MwStSyst-RL nicht steuerpflichtige natürliche Person der Mehrwertsteuerpflicht kraft Rechnungslegung unterliegen kann. Der Wortlaut von Art 203 MwStSyst-RL erlaubt es jedoch nicht, die Frage zu beantworten, wer der Rechnungsaussteller und somit als Steuerschuldner iSd leg cit ist, wenn die MwSt‑Identifikationsdaten des scheinbaren Ausstellers durch eine andere Person unbefugt verwendet wurden.

Die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen und etwaigen Missbräuchen ist ein allgemein anerkanntes Ziel der MwStSyst-RL. Diesem Ziel liefe es entgegen, einer Person, deren MwSt‑Identifikationsdaten betrügerisch verwendet wurden, eine Steuerpflicht gem Art 203 MwStSyst-RL aufzuerlegen. Aus diesem Grund kommt der tatsächliche Rechnungsaussteller – selbst, wenn er kein Steuerpflichtiger iSd Art 9 MwStSyst-RL ist – als Steuerschuldner gem Art 203 MwStSyst-RL in Frage. Allerdings wies das vorlegende Gericht im Verfahren darauf hin, dass der Arbeitgeber des Ausgangsfalles nicht die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt hatte, um die Ausstellung betrügerischer Rechnungen zu verhindern.

Nach stRsp darf von einem Steuerpflichtigen verlangt werden, sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einem Mehrwertsteuerbetrug führt. Dabei muss er alle Maßnahmen ergreifen, die von ihm vernünftigerweise verlangt werden können (EuGH 27.9.2007, C‑409/04, Teleos u. a., Rn 65; 21.6.2012, C‑80/11 und C‑142/11, Mahagében und Dávid, Rn 54). Im Rahmen von Art 203 MwStSyst-RL obliegt einem Arbeitgeber gegenüber seinem Arbeitnehmer eine entsprechende Sorgfaltspflicht, insbesondere wenn dieser dafür zuständig ist, im Namen und auf Rechnung seines Arbeitgebers MwSt-Rechnungen auszustellen. Verletzt der Arbeitgeber diese Sorgfaltspflicht, kann ihm das betrügerische Handeln seines Arbeitnehmers zugerechnet werden, so dass er die MwSt in den streitigen Rechnungen gem Art 203 MwStSyst-RL schuldet. Ob der Arbeitgeber diese Sorgfalt tatsächlich an den Tag gelegt hat, ist von der nationalen FinVw oder vom angerufenen nationalen Gericht zu prüfen.

Conclusio

Der EuGH hat in anders gelagerten Sachverhalten bereits mehrmals ausgesprochen, dass Wirtschaftsteilnehmer verpflichtet werden dürfen, sicherzustellen, dass sie sich nicht an einem MwSt-Betrug beteiligen. Sie müssen alle Maßnahmen ergreifen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden können (EuGH 27.9.2007, C‑409/04, Teleos u. a., Rn 65; 21.6.2012, C‑80/11 und C‑142/11, Mahagében und Dávid, Rn 54). Diese Verpflichtung wird damit begründet, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das mit der MwStSyst-RL anerkannt und gefördert wird, und eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf die Bestimmungen des Unionsrechts unzulässig ist (EuGH 29. 4. 2004, C‑487/01 und C‑7/02, Gemeente Leusden und Holin Groep, Rn 76; 2. 7. 2020, C‑835/18, Terracult, Rn 38). In Anbetracht des genannten Ziels trifft einen Arbeitgeber auch im Rahmen von Art 203 MwStSyst-RL eine entsprechende Sorgfaltspflicht gegenüber seinem Arbeitnehmer. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sein Arbeitnehmer zuständig ist, in seinem Namen und auf seine Rechnung MwSt-Rechnungen auszustellen. Welche Maßnahmen der Arbeitgeber in diesem Zusammenhang ergreifen muss, wird vom EuGH nicht konkretisiert.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35689 vom 24.07.2024