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ErwGr 17 und 62 MwStSyst-RL
Abstract
Bei grenzüberschreitenden Umsätzen verpflichtet die umsatzsteuerliche Qualifikation eines Mitgliedstaates den anderen Mitgliedstaat nicht dazu, seine rechtliche Beurteilung daran anzupassen, um eine Doppelbesteuerung des Umsatzes zu vermeiden. Bei korrekter Anwendung der MwStSyst-RL durch alle beteiligten Mitgliedstaaten sind Doppel- und Nichtbesteuerung ausgeschlossen. Bei Unklarheiten steht den Mitgliedstaaten die Vorlage an den EuGH offen. Sie sind nicht zur verwaltungsbehördlichen Zusammenarbeit verpflichtet.
EuGH vom 18. 6. 2020, C-276/18, KrakVet Marek Batko, ECLI:EU:C:2020:485
Sachverhalt
KrakVet ist eine Gesellschaft mit Sitz in Polen, die Produkte an Kunden in verschiedenen Staaten – darunter auch Ungarn – verkauft. Auf der Website bot KrakVet den ungarischen Kunden die Möglichkeit an, mit einer polnischen Spedition einen Vertrag über den Transport der Waren zu schließen. Die Kunden konnten die gekauften Waren aber auch selbst bei KrakVets Lager in Polen abholen oder von einem Spediteur ihrer Wahl liefern lassen. In einem Steuervorbescheid erhielt KrakVet von den polnischen Steuerbehörden die Auskunft, dass die Lieferungen in Polen steuerbar seien. Die ungarischen Steuerbehörden hingegen hielten KrakVets Umsätze für in Ungarn steuerbar. Die zentrale Frage war, ob die ErwGr 17 und 62 der MwStSyst-RL (Vermeidung von Kompetenzkonflikten und Doppelbesteuerung) sowie VO 904/2010 einen Mitgliedstaat an die umsatzsteuerliche Qualifikation eines anderen Mitgliedstaates binden, um Doppelbesteuerung zu verhindern. Sollte diese Frage verneint werden, stellte sich die Folgefrage, ob die Mitgliedstaaten zur Wahrung des Neutralitätsgrundsatzes und der Verhinderung von Doppelbesteuerung zusammenarbeiten und eine Einigung über die umsatzsteuerliche Qualifikation des Umsatzes erzielen müssen.
Entscheidung des Gerichts
Das Ziel der in der MwStSyst-RL festgelegten Leistungsortregeln ist die Vermeidung von Kompetenzkonflikten, die in Doppel- und Nichtbesteuerung münden. Dieses Ziel ist auch in den ErwGr 17 und 62 der MwStSyst-RL ausgedrückt. Bei korrekter Anwendung der MwStSyst-RL wird der Neutralitätsgrundsatz gewahrt sowie Doppel- und Nichtbesteuerung verhindert (s EuGH C-386/16, Toridas). Stellen die Mitgliedstaaten fest, dass sie ein- und denselben Umsatz unterschiedlich behandeln, sind sie zur Vorlage an der EuGH gem Art 267 AEUV berechtigt oder verpflichtet (s EuGH C-544/16, Marcandi). Der EuGH legt die infragestehenden Bestimmungen der MwStSyst-RL sodann verbindlich aus, wodurch geklärt wird, in welchem Mitgliedstaat die Umsatzsteuer zu erheben ist. Sollte sich dann herausstellen, dass die USt in einem Mitgliedstaat zu Unrecht entrichtet wurde, hat der Steuerpflichtige ein Anrecht auf Erstattung (s EuGH C-38/16, Compass Contract Services). VO 904/2010 ermöglicht bloß die Einrichtung eines gemeinsamen Systems der Zusammenarbeit zum Zwecke des Informationsaustauschs (s EuGH C-419/14, WebMindLicenses). Die Verordnung begründet weder eine Verpflichtung zur grenzüberschreitenden behördlichen Zusammenarbeit noch ein Erfordernis, wonach ein Mitgliedstaat an die umsatzsteuerliche Qualifikation eines anderen Mitgliedstaates gebunden wäre (s EuGH C-318/07, Persche).
Conclusio
Die Entscheidung in KrakVet zeigt, dass USt-Doppelbesteuerung auch innerhalb der EU auftreten kann. Zwar verhindert die korrekte Anwendung der Leistungsortregeln Doppelbesteuerung und Nichtbesteuerung, jedoch ist diese „korrekte Anwendung“ für die Mitgliedstaaten nicht immer von Vornherein klar. So kann die unterschiedliche Interpretation des zugrundeliegenden Sachverhalts oder der potenziell anwendbaren Leistungsortregeln durch die beteiligten Staaten zur Anwendung verschiedener Leistungsortregeln führen, woraus Doppelbesteuerung oder Nichtbesteuerung resultieren können. Der EuGH leitet aus dem Ziel der Vermeidung von Kompetenzkonflikten, die in Doppel- und Nichtbesteuerung münden können, dennoch keine positive Verpflichtung für Mitgliedstaaten ab. Eine solche positive Verpflichtung könnte etwa in einer Pflicht zur Zusammenarbeit unter VO 904/2010 bestehen, um eine einheitliche Qualifikation des Umsatzes zu erreichen. Aus der Rs WebmindLicenses ergibt sich lediglich die Pflicht der Steuerverwaltung, unter gewissen Vorzeichen ein Auskunftsersuchen an die Steuerverwaltung eines anderen Mitgliedstaates zu richten. Die Kommission testet aktuell im Pilotprojekt zu Vorab-Auskünften in grenzüberschreitenden Fällen einen Mechanismus, in dem zwei Mitgliedstaaten einem Steuerpflichtigen bindende Vorabauskünfte zu komplexen Mehrwertsteuerfällen erteilen. Österreich nimmt nicht am Pilotprojekt teil. Von Doppelbesteuerung betroffenen Steuerpflichtigen bleibt also nur die Hoffnung auf eine EuGH-Vorlage durch das Gericht. Ein Rechtsanspruch darauf besteht aber nicht. Im Fall einer Vorlage ist die Verfahrensdauer bis hin zur Entscheidung des EuGH und deren innerstaatlicher Umsetzung beträchtlich und wirkt sich negativ auf Wirtschaftstreibende aus. Solange keine Entscheidung des EuGH vorliegt, liegt die „korrekte Anwendung“ der Richtlinienbestimmungen häufig im Dunkeln.