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EuGH: Versagung des Vorsteuerabzugs für nicht operative Unternehmen?

Bearbeiter: Juliane Beverungen

MwStSyst-RL: Art 9 Abs 1, Art 167, Art 168

Abstract

Der EuGH hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob einem Unternehmen, das für Zwecke der MwSt relevante Umsätze erzielt, aber nach nationalem Recht als nicht operatives Unternehmen zu qualifizieren ist, die Eigenschaft als Steuerpflichtiger und damit das Recht auf Vorsteuerabzug versagt werden kann. Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass eine nationale Regelung der Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtiger gem Art 9 Abs 1 MwStSyst-RL nicht entgegenstehen kann.

EuGH 7. 3. 2024, C-341/22, Feudi di San Gregorio Aziende Agricole

Sachverhalt

Das Unternehmen Vigna ist eine Gesellschaft italienischen Rechts, die einer wirtschaftlichen Tätigkeit, der Erzeugung und Vermarktung von Wein, nachging. Vigna wurde von der italienischen Steuerbehörde als nicht operatives Unternehmen qualifiziert, da die mehrwertsteuerpflichtigen Ausgangsumsätze unter einem Schwellenwert lagen, bis zu dem ein Unternehmen nach nationalem Recht als nicht operativ angesehen wird. Da dieser Schwellenwert in drei Besteuerungszeiträumen nicht überschritten wurde, lehnte die Steuerverwaltung den Vorsteuerabzug für den Streitzeitraum (2008) ab.

Vigna erhob daraufhin gegen den Steuerbescheid Klage, welche abgewiesen wurde. Noch im selben Jahr übernahm das Unternehmen Feudi (Kl) Vigna und legte gegen das Urteil Berufung ein, welche zurückgewiesen wurde. Daraufhin legte die Kl Kassationsbeschwerde beim Kassationsgerichtshof ein und machte geltend, dass die Versagung des Vorsteuerabzugs nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

Der Kassationsgerichtshof erörterte, dass die infrage stehende italienische Regelung von der Gründung von nicht operativen Unternehmen zur Erhaltung von Steuervorteilen abhalten solle. Das Gericht hegte Zweifel an der Vereinbarkeit der Regelung mit dem Unionsrecht und setzte das Verfahren aus, um dem EuGH folgende Fragen vorzulegen:

Kann Art 9 Abs 1 MwStSyst-RL die Steuerpflichtigeneigenschaft und das damit einhergehende Recht auf Vorsteuerabzug versagen, wenn nationale Schwellenwerte unterschritten wurden und das Unternehmen daher als nicht operatives Unternehmen anzusehen ist? Stehen die allgemeinen Grundsätze der Neutralität der MwSt und der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung entgegen, die aufgrund von Schwellenwerten einen Vorsteuerabzug versagt? Stehen die unionsrechtlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes einer solchen Regelung entgegen?

Entscheidung

Gem Art 9 Abs 1 MwStSyst-RL ist jemand steuerpflichtig, wenn eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis ausgeübt wird. Dieser Wortlaut betont laut dem Gerichtshof den objektiven Charakter der Tätigkeit, da diese unabhängig von ihrem Zweck oder Ergebnis betrachtet wird (s EuGH 25. 2. 2021, C-604/19, Gmina Wrocław, EU:C:2021:132, Rn 69). Somit kann die Eigenschaft als Steuerpflichtiger nicht von einer bestimmten Bedingung, wie der Überschreitung bestimmter Schwellenwerte, abhängen. Es kommt einzig darauf an, ob eine Person tatsächlich eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Vorliegend hatte Vigna eine solche Tätigkeit ausgeübt. Somit stellt der EuGH fest, dass einer Person die Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtige nicht mangels Überschreitens einer (nationalen) Mindestumsatzschwelle versagt werden kann.

Im Hinblick auf die zweite Frage weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Recht auf Vorsteuerabzug ein fundamentaler Grundsatz des europäischen Mehrwertsteuersystems ist und somit grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Aus Art 168 MwStSyst-RL geht hervor, dass für die Inanspruchnahme dieses Rechts zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssen: Zum einen muss der Betroffene ein Steuerpflichtiger gem Art 9 MwStSyst-RL sein und zum anderen muss ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen einem bestimmten Eingangsumsatz und einem oder mehreren Ausgangsumsätzen bestehen (EuGH 8. 9. 2022, C-98/21, Finanzamt R, EU:C:2022:645, Rn 45). Bei Fehlen dieses Zusammenhangs kann das Recht auf Vorsteuerabzug nur dann bestehen bleiben, wenn die Kosten zu den allgemeinen Aufwendungen des Steuerpflichtigen gehören. Dann hängen diese Kosten nämlich direkt und unmittelbar mit der wirtschaftlichen Gesamttätigkeit des Steuerpflichtigen zusammen (EUGH 12. 11. 2020, C-42/19, Sonaecom, EU:C:2020:913, Rn 42). Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass das Recht auf Vorsteuerabzug keiner Anforderung unterliegt, nach der ein Steuerpflichtiger einen bestimmten Schwellenwert bzgl seiner Ausgangsumsätze erreichen muss.

Der EuGH hat aber in weiterer Folge festgehalten, dass das Recht auf Vorsteuerabzug versagt werden kann, wenn objektiv feststeht, dass eine Steuerhinterziehung oder ein Rechtsmissbrauch vorliegt. Die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen und -umgehungen ist ein anerkanntes Ziel, das von der MwStSyst-RL gefördert wird (EuGH 3. 3. 2005, C-32/03, Fini H, EU:C:2005:128, Rn 34f; 25. 5. 2023C-114/22, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Warszawie, EU:C:2023:430, Rn 41). Die Rsp des EuGH verbietet bspw rein künstliche, sich jeder wirtschaftlichen Realität entziehenden Steuergestaltungen, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen (s EuGH 16. 7. 1998, C-264/96, ICI, EU:C:1998:370, Rn 26). Es obliegt dabei den Steuerbehörden hinreichend nachzuweisen, ob objektive Umstände vorliegen, die dem Recht auf Vorsteuerabzug entgegenstehen. Weiterhin steht es den Mitgliedstaaten zu, Maßnahmen zu erlassen, um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Diese dürfen aber nicht über das Erforderliche hinausgehen (EuGH 9. 12. 2021, C-154/20, Kemwater ProChemie, EU:C:2021:989, Rn 28).

Vorliegend beruht die italienische Regelung auf einer Vermutung der nicht operativen Tätigkeit, wenn das Gesamtaufkommen der Einnahmen und Erträge bestimmte Beträge nicht übersteigen, es sei denn das Unternehmen kann aufzeigen, dass die Unmöglichkeit diesen Schwellenwert zu erreichen, durch objektive Umstände gerechtfertigt ist. Der EuGH hält diese Vermutung für nicht geeignet, um einen Steuermissbrauch anzunehmen, da die Einnahmeschwelle nichts mit dem Steuermissbrauch zu tun hat. Eine allgemeine Vermutung für das Vorliegen von Steuerhinterziehung kann keine Maßnahme rechtfertigen, die die Ziele einer RL beeinträchtigt (EuGH 7. 9. 2017, C-6/16, Eqiom und Enka, EU:C:2017:641, Rn 31). Weiterhin kann eine solche Vermutung, auch wenn sie widerlegbar ist, nicht dazu führen, dass der Vorsteuerabzug versagt wird. Somit stehen die Grundsätze des Art 167 MwStSyst-RL sowie der Grundsatz der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit einer solchen Regelung entgegen.

Conclusio

Die infrage stehende italienische Regelung sieht vor, dass alle Unternehmen, die bestimmte Schwellenwerte hinsichtlich ihrer mehrwertsteuerpflichtigen Ausgangsumsätze unterschreiten, als nicht operative Unternehmen, sog Briefkastenfirmen, gelten. Diese Regelung beruht auf einer Vermutung der Nicht-Operativität, ohne dass die Steuerverwaltung weitere Nachweise erbringen muss. Um weiterhin als operatives Unternehmen zu gelten und somit auch einen Vorsteuerabzug geltend machen zu können, muss der Steuerpflichtige objektive Umstände geltend machen können, die die Erzielung von höheren Einnahmen unmöglich gemacht haben. Trotz des anerkannten Zieles der Missbrauchsbekämpfung geht diese Regelung zu weit:

Die Missbrauchsbekämpfung erfolgt durch eine sofortige Qualifizierung als „nicht operativ“, während der Vorsteuerabzug nach drei Jahren versagt wird. Zwar ist die Regelung nicht irreversibel, allerdings wird die Beweislast damit vollständig auf den Steuerpflichtigen überwälzt. Da hierdurch ein integraler Bestandteil der MwStSyst-RL stark eingeschränkt wird, entscheidet der EuGH folgerichtig. Interessant ist aber festzuhalten, dass der GA in seinen Schlussanträgen verneint hat, dass die Grundsätze der Neutralität, der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dieser Regelung entgegenstehen, da dem Steuerpflichtigen weiterhin die Möglichkeit offensteht, die Vermutung der Nicht-Operativität zu widerlegen (s GA Collins, SA 28. 9. 2023 zu C-341/22, ECLI:EU:C:2023:719).

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35574 vom 25.06.2024