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EuGH: Verteidigungsrechte eines gesamtschuldnerisch haftenden Gesellschafters

Bearbeiter: Bence Komár

MwStSyst-RL: Art 273

AEUV: Art 325

Abstract

In einem Fall betreffend die MwSt-Schuld einer polnischen Gesellschaft hatte der EuGH über die Verteidigungsrechte eines potenziell gesamtschuldnerisch haftenden Dritten zu entscheiden. Im Anlassfall ging es um die Frage, ob einem ehemaligen Mitglied des Verwaltungsrates der Gesellschaft Rechte zur Akteneinsicht und Beteiligung am gegen die Gesellschaft geführten Besteuerungsverfahren gewährt werden müssen.

EuGH 27. 2. 2025, C-277/24, Adjak

Sachverhalt

M. B. war von 2014 bis 2018 Vorsitzende des Verwaltungsrats einer polnischen Gesellschaft. Gegen diese Gesellschaft wurde ein MwSt-Prüfungsverfahren (Besteuerungsverfahren) betreffend das Jahr 2016 geführt. M. B. beantragte 2022, im Verfahren als Beteiligte anerkannt zu werden und Akteneinsicht zu erhalten, weil sie für etwaige von der Gesellschaft nicht beglichene Steuerschulden als natürliche Person gesamtschuldnerisch haften konnte. Die zuständige Behörde lehnte den Antrag ab. Eine Beteiligung der M. B. am Steuerprüfungsverfahren, in dem die Steuerschuld einer anderen Person (hier: der Gesellschaft) festgestellt wurde, war nach polnischem Recht nicht möglich. Denn die gesamtschuldnerische Haftung eines Dritten ergab sich nach polnischem Recht aus zwei separaten Verfahren: Das sog Besteuerungsverfahren betraf die Bestimmung der Höhe der Steuerschuld. An diesem konnte nur der Steuerschuldner beteiligt sein. Anschließend erfolgte ein Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung, wenn der Steuerschuldner seinen steuerlichen Verpflichtungen nicht nachkam. Gesamtschuldnerisch haftende ehemalige Verwaltungsratsvorsitzende konnten nur am zweitgenannten Verfahren teilnehmen. Allerdings war es nach polnischem Recht nicht möglich, in diesem zweiten Verfahren die im ersten Verfahren festgestellte Höhe der Steuerschuld anzufechten. Gegen die Ablehnung ihres Antrags, als Beteiligte im Besteuerungsverfahren anerkannt zu werden, erhob M. B. Rechtsmittel beim zuständigen Verwaltungsgericht. Dieses legte dem EuGH die Frage vor, ob eine nationale Regelung, wonach einer gesamtschuldnerisch haftenden Person kein angemessenes Rechtsmittel gewährt wird, die Feststellungen zum Bestehen oder Höhe der Steuerschuld im Rahmen des Verfahrens zur gesamtschuldnerischen Haftung anzufechten, gegen Art 273 MwStSyst-RL iVm Art 325 Abs 1 AEUV, die Verteidigungsrechte und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt.

Entscheidung des EuGH

Gem Art 273 Abs 1 MwStSyst-RL können die MS über die in der RL vorgesehenen Pflichten hinaus weitere Pflichten vorsehen, um eine genaue Steuererhebung sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden. Ferner müssen sie iSd Art 325 Abs 1 AEUV Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der EU gerichtete rechtswidrige Handlungen mit abschreckenden und wirksamen Maßnahmen bekämpfen. Ein Mechanismus der gesamtschuldnerischen Haftung steht grds mit beiden Bestimmungen des Unionsrechts im Einklang. Art 273 MwStSyst-RL räumt den MS einen Gestaltungsspielraum ein, wie sie eine genaue Steuererhebung erreichen. Dennoch müssen MS die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts auch bei Vorliegen eines solchen Gestaltungsspielraumes berücksichtigen (EuGH 16. 10. 2019, C‑189/18, Glencore Agriculture Hungary, Rn 39). Die Wahrung der Verteidigungsrechte ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, wonach den Adressaten von Entscheidungen ua der Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Akteneinsicht gewährt werden muss. Er ist anwendbar, wenn die Verwaltung gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme erlassen soll.

Die Wahrung der Verteidigungsrechte darf Beschränkungen unterworfen werden. Damit sie zulässig sind, müssen die Beschränkungen dem Gemeinwohl dienende Ziele verfolgen und sie dürfen die gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt nicht antasten (EuGH 16. 10. 2019, C‑189/18, Glencore Agriculture Hungary, Rn 43). Zur Erreichung solcher Ziele dürfen die MS nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Mittel einsetzen, die geeignet sind und die maßgeblichen Grundsätze des Unionsrechts so wenig wie möglich beeinträchtigen (EuGH 13. 10. 2022, C‑1/21, Direktor na DirektsiaObzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“, Rn 73).

Im Anlassfall könnte gegenüber M. B. ein Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung eingeleitet werden. Würde eine Haftung der M. B. tatsächlich festgestellt werden, würde dies M. B. beschweren. Die polnische Steuerverwaltung muss daher die Verteidigungsrechte der M. B. grds wahren. Im Stadium des Besteuerungsverfahrens ist es jedoch noch ungewiss, ob ein Verfahren zur gesamtschuldnerischen Haftung gegenüber M. B. überhaupt eingeleitet wird. Würde ihr zwecks Vertraulichkeitsschutzes oder Schutzes der Staatskassenansprüche die Teilnahme am gegenüber der Gesellschaft eingeleiteten Besteuerungsverfahren versagt, wäre dies noch verhältnismäßig und würde den Wesensgehalt der Verteidigungsrechte nicht antasten. Allerdings wird diese Grenze überschritten, wenn sie im gegen sie geführten Verfahren der gesamtschuldnerischen Haftung die Feststellungen des Besteuerungsverfahrens nicht wirksam infrage stellen kann und keine Einsicht in die Akten der Steuerverwaltung erhalten kann.

Conclusio

Der Urteilsspruch des EuGH erweckt zunächst den Eindruck, als stünde die vom vorlegenden Gericht dargestellte polnische Regelung und Steuerpraxis im Einklang mit dem Unionsrecht. Nach der geschilderten polnischen Rechtslage kann nämlich der gesamtschuldnerisch haftende Dritte die Feststellungen zum Bestehen und Höhe der Steuerschuld tatsächlich auf keine Art und Weise anfechten. Der erste Teil der Antwort auf die Vorlagefrage bestätigt nur, dass die Versagung der Teilnahme des Dritten am Besteuerungsverfahren dem Unionsrecht nicht entgegensteht. Der EuGH stellt gleichzeitig klar, dass einem Dritten im Rahmen des Verfahrens der gesamtschuldnerischen Haftung die Möglichkeit gewährt werden muss, die im Besteuerungsverfahren getätigten Tatsachenfeststellungen und die rechtliche Würdigung betreffend das Bestehen und die Höhe der Steuerschuld wirksam anzufechten. Im Ergebnis ist das Urteil dahin zu verstehen, dass dem gesamtschuldnerisch haftenden Dritten in irgendeinem Verfahrensstadium die genannten Verteidigungsrechte gewährt werden müssen.

Nach österreichischem Recht haften die Vertreter von juristischen Personen neben den durch sie vertretenen juristischen Person für die diese treffenden Abgaben insoweit, als die Abgaben infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können (s §§ 9 iVm 80 ff BAO). Diese Personen haben gem § 77 Abs 2 BAO Parteistellung. Gem § 248 BAO kann der Haftungspflichtige innerhalb der für die Einbringung der Bescheidbeschwerde gegen den Haftungsbescheid (s § 224 Abs 1 BAO) offenstehenden Frist auch gegen den Bescheid über den Abgabenanspruch (Bestehen und Höhe der Steuerschuld) Bescheidbeschwerde einbringen.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 36914 vom 07.07.2025