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EuGH: Vorsteuerabzug auch bei Kenntnis drohender Zahlungsunfähigkeit des Leistungserbringers

Bearbeiter: Markus Mittendorfer

MwStSyst-RL: Art 167 ff; Art 273

Abstract

In seiner Rs HA.EN. präzisiert der EuGH seine Betrugsrechtsprechung in Fällen, in denen der Leistungserbringer in finanzielle Schwierigkeiten gerät und diese dem Leistungsempfänger kenntlich sind. Der Gerichtshof kommt dabei zum Ergebnis, dass die bloße Kenntnis der finanziellen Situation des Verkäufers und eines potenziellen Mehrwertsteuerausfalles weder Betrug noch Rechtsmissbrauch impliziert und die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts nicht rechtfertigt.

EuGH 15. 9. 2022, C-227/21, HA.EN.

Sachverhalt

Durch Vertrag gewährte UAB „Medicinos Bankas“ der UAB „Sostinės būstai“ im Jahr 2007 ein Darlehen für die Durchführung von Aktivitäten im Bereich der Immobilienentwicklung. Besichert wurde das Darlehen durch ein vertragliches Grundpfandrecht an einem Grundstück. Im Jahr 2015 übernahm HA.EN. durch einen Forderungsabtretungsvertrag gegen Entgelt sämtliche Geldforderungen aus dem Darlehensvertrag einschließlich des vertraglichen Grundpfandrechts. Aufgrund einer erfolglosen Zwangsversteigerung des Grundstücks, übernahm HA.EN. das Grundstück in weiterer Folge zum ursprünglichen Preis für den Verkauf in der Versteigerung, womit ein Teil der Forderungen abgegolten werden sollte. Daraufhin zog HA.EN. die in der an sie ausgestellten Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer als Vorsteuer in ihrer Mehrwertsteuererklärung ab. Dieser Vorsteuerabzug wurde HA.EN. von den litauischen Steuerbehörden allerdings mit der Begründung versagt, sie habe beim Erwerb des Grundstücks unredlich und rechtsmissbräuchlich gehandelt, indem sie Rechtsgeschäfte eingegangen sei, obwohl sie gewusst habe oder hätte wissen müssen, dass die Verkäuferin (UAB „Sostinės būstai“) die auf dieses Rechtsgeschäft entfallende Mehrwertsteuer nicht an den Fiskus entrichten werde können. Die Rechtsansicht wurde in den nachfolgenden Instanzen wiederholt bestätigt. Das Oberste Verwaltungsgericht Litauen hegte allerdings Zweifel an deren unionsrechtlichen Zulässigkeit und legte dem EuGH die Frage vor, ob das Wissen oder Hätte-wissen-müssen, dass die Verkäuferin aufgrund ihrer finanziellen Lage uU keine Mehrwertsteuer an den Fiskus abführen werde, die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug rechtfertige.

Entscheidung des EuGH

Die Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ist nach stRsp des EuGH ein Ziel, das von der MwStSyst-RL anerkannt und gefördert wird. Der Vorsteuerabzug muss nach stRsp demnach immer dann versagt werden, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. Was die Beteiligung des Erwerbers des Grundstückes an einem Mehrwertsteuerbetrug betrifft, hält der Gerichtshof zunächst fest, dass — sollte der Steuerpflichtige seinen Erklärungspflichten nachgekommen sein — die Nichtabführung der ordnungsgemäß erklärten Mehrwertsteuer keinen Betrug darstellen kann. Der Umstand, dass ein sich in finanziellen Schwierigkeiten befindlicher Steuerpflichtiger im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens einen seiner Gegenstände zum Zweck des Begleichens seiner Schulden verkauft und anschließend eine Erklärung über die geschuldete Mehrwertsteuer abgibt, die er in weiterer Folge allerdings aufgrund seiner finanziellen Situation nicht begleichen kann, impliziert ebenfalls keinen Mehrwertsteuerbetrug. Wenn aber schon dem Leistungserbringer kein Mehrwertsteuerbetrug vorgeworfen werden kann, muss dies erst recht für den Leistungsempfänger gelten. Das Wissen oder Hätte-wissen-müssen von der finanziellen Situation des Leistungserbringers begründet demnach auch für den Leistungsempfänger keine Beteiligung an einem Mehrwertsteuerbetrug und kann die Versagung des Vorsteuerabzuges nicht rechtfertigen.

Der Vorsteuerabzug könne aber auch dann versagt werden, wenn das Vorliegen eines Rechtsmissbrauches nachgewiesen werden kann. Rechtsmissbrauch liegt bei kumulativer Erfüllung zweier Voraussetzungen vor: Zum Ersten müssen die betreffenden Umsätze einen Steuervorteil zum Ergebnis haben. Zum Zweiten muss aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass sich der wesentliche Zweck der betreffenden Umsätze auf die Erlangung eines Steuervorteils beschränkt. Im Ergebnis verneinte der EuGH auch das Vorliegen eines Rechtsmissbrauches. Selbst wenn man den Vorsteuerabzug aus der Übernahme des Grundstücks als Steuervorteil ansehen würde, kann eine solche Situation nicht als den mit der MwStSyst-RL verfolgten Zielen zuwiderlaufend angesehen werden. Auch kann die Übernahme des Grundstücks aufgrund des erfolglosen Zwangsversteigerungsverfahrens nicht mit der Erlangung eines Steuervorteils begründet werden, sondern vielmehr mit dem Willen, eine Forderung ganz oder tw von einem insolventen Schuldner beizutreiben. Insoweit kann die Kenntnis des Erwerbers von der finanziellen Situation des Verkäufers nicht ausreichen, um Missbräuchlichkeiten des betreffenden Umsatzes nachzuweisen und den Vorsteuerabzug zu versagen.

Conclusio

In der Rs HA.EN. hatte der Gerichtshof die Möglichkeit, die Grenzen seiner Betrugsrechtsprechung aufzuzeigen. Der EuGH urteilte im Ergebnis, dass das Wissen bzw Hätte-wissen-müssen des Erwerbers von der potenziellen Zahlungsunfähigkeit des Leistungserbringers und damit auch eines potenziellen Mehrwertsteuerausfalles keinen Betrug oder Rechtsmissbrauch impliziert und daher auch keine Auswirkungen auf dessen Vorsteuerabzugsrecht haben kann. Die Entscheidung des Gerichtshofs ist nachvollziehbar, könnte einem Unternehmen, das von in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Schuldnern zur Deckung der Schulden Gegenstände übernimmt, doch immer vorgeworfen werden, vom potenziellen Mehrwertsteuerausfall gewusst zu haben. Davon abgesehen würde die Versagung des Vorsteuerabzuges in einer solchen Konstellation auch dem Neutralitätsgrundsatz widersprechen, weil der Erwerber nicht zum Abzug der im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens entrichteten Vorsteuer berechtigt wäre. Zudem weist der Gerichtshof in Einklang mit GA Kokott daraufhin (SA Kokott 5. 5. 2022, C-227/21, HA.EN. Rn 47 ff), dass dies zu einer Situation führen würde, in der das Insolvenzrisiko des Verkäufers für die tatsächliche Zahlung der Mehrwertsteuer an den Fiskus unzulässiger Weise auf den Erwerber übergewälzt wird. Konsequent weitergedacht würde dies auch eine Einschränkung der potenziellen Erwerber im Zwangsversteigerungsverfahren auf Private zur Folge haben, denen ohnehin kein Vorsteuerabzugsrecht zusteht. Im Ergebnis liefe ein solches Verständnis jedenfalls dem Zweck eines Zwangsversteigerungsverfahrens zuwider, der idR in einer optimalen Verwertung des Schuldnervermögens liegt.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 33130 vom 06.10.2022