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EuGH zum Reemtsma-Anspruch bei Steuerbarkeit der Leistung in einem anderen Mitgliedstaat

Bearbeiter: Benjamin Beer

MwStSyst-RL: Art 167, 168 lit a, 178 lit a, 203

dUStG: § 14c, § 15 Abs 1

Abstract

Mit einem sog Reemtsma-Anspruch (entwickelt in EuGH 15. 3. 2007, C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken) kann der Leistungsempfänger sich irrtümlich entrichtete USt von der inl FinVw zurückerstatten lassen, wenn eine Rückforderung vom Leistungserbringer, etwa aufgrund dessen Insolvenz, übermäßig erschwert ist. Im vorliegenden Fall stellt der EuGH fest, dass USt jedoch dann nicht mittels eines Reemtsma-Anspruchs direkt von den Finanzbehörden zurückgefordert werden kann, wenn diese bereits an den Leistungserbringer rückerstattet wurde (daher eine doppelte Belastung des Staates eintreten würde) und der Leistungsempfänger noch nicht zivilrechtlich gegen den Leistungserbringer vorgegangen ist.

EuGH 5. 9. 2024, C-83/23, H-GmbH

Sachverhalt

In den Jahren 2008-2012 veräußerte die deutsche E-GmbH sechs Motorboote an die ebenfalls deutsche B-GmbH & Co KG (KG), Vorgängerin der H-GmbH, von welcher sie die Motorboote unmittelbar zurückleaste (sale and lease back). Die E-GmbH hatte die Motorboote zuvor in Italien erworben, wo sie auch nach deren Veräußerung verblieben. Beim Verkauf der Motorboote an die KG wies die E-GmbH in den Rechnungen deutsche USt aus. Im Rahmen von abgabenbehördlichen Prüfungshandlungen wurde jedoch festgestellt, dass der Verkauf nicht in Deutschland, sondern in Italien steuerbar gewesen wäre (ruhende Lieferung iSd § 3 Abs 7 dUStG, entspricht § 3 Abs 7 UStG). Daher wurden die entsprechenden USt-Bescheide der KG geändert und der für diese Transaktionen geltend gemachte Vorsteuerabzug mit der Begründung versagt, dass es sich um eine nicht zum Vorsteuerabzug berechtigende USt iSd § 14c dUStG (Steuerschuld kraft Rechnungslegung, entspricht § 11 Abs 12 UStG) handeln würde.

In weiterer Folge wurde über das Vermögen der E-GmbH ein Insolvenzverfahren eröffnet. Die ggst Rechnungen wurden durch den Insolvenzverwalter insoweit geändert, als dass keine USt mehr ausgewiesen wurde. Daraufhin wurde die nun nicht mehr gem § 14c dUStG geschuldete USt an die E-GmbH zurückerstattet. Trotz entsprechender Anweisung durch die FinVw weigerte sich der Insolvenzverwalter, diese in Italien für die USt zu registrieren und der KG Rechnungen mit italienischer USt auszustellen, mit der die KG dann einen Vorsteuerabzug in Italien hätte geltendmachen können. Die KG beantragte die Erstattung der USt, die sie an die E-GmbH gezahlt hatte, unmittelbar von der FinVw.

Das zuständige FA lehnte den Antrag jedoch ab und wies auch einen Einspruch ab. Die dagegen erhobene Klage wurde vom FG Düsseldorf (4. 12. 2020, 1 K 1510/18 AO) abgewiesen. Dagegen legte die Kl Revision beim BFH ein, der das Verfahren aussetzte und sich an den EuGH wandte (BFH 3. 11. 2022, XI R 6/21). Der BFH war sich nämlich unsicher, ob ein Reemtsma-Anspruch auch dann zusteht, wenn auf der Rechnung nicht inländische, sondern ausländische USt ausgewiesen werden müsste und, ob die KG von der E-GmbH auf dem Zivilrechtsweg eine Rechnung mit ausgewiesener ausländischer USt verlangen müsste. Außerdem war sich der BFH unsicher, ob nicht der Rückerstattungsanspruch des Leistungserbringers vorrangig gegenüber dem Reeemtsma-Anspruch sei.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH stellt fest, dass die in der Rs Reemtsma Cigarettenfabriken (EuGH 15. 3. 2007, C-35/05) aufgestellten Grundsätze auf den vorliegenden Fall nicht angewendet werden können. Anderenfalls wäre die FinVw nämlich dazu verpflichtet, die MwSt zweimal, nämlich einmal an den Leistungserbringer und einmal an den Leistungsempfänger zu erstatten. Der Erstattungsanspruch des Leistungserbringers für Abgaben, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben wurden, hat aufgrund des Neutralitätsgrundsatzes Vorrang gegenüber dem Reemtsma-Anspruch. Denn er dient dazu, eine unionsrechtswidrige wirtschaftliche Belastung des Leistungserbringers zu neutralisieren. Dafür ist es unerheblich, dass sich der Leistungserbringer in einem Insolvenzverfahren befindet. Andernfalls würde der FinVw nämlich eine unangemessene Belastung dadurch auferlegt werden, dass sie die Durchbrechung der Erstattung der USt in der üblichen Kette aufgrund der Insolvenz des Leistungserbringers berücksichtigen müsste.

Auch die Zielsetzung der MwStSyst-RL, Steuerhinterziehungen, -umgehungen oder -missbrauch zu verhindern, führt nach Ansicht des EuGH zu keinem anderen Ergebnis. Von der deutschen FinVw kann nämlich nicht verlangt werden, zu überprüfen, ob die vorliegende Weigerung des Insolvenzverwalters, italienische MwSt zu erklären, in Italien einen MwSt-Betrug begründen würde.

Abschließend führt der EuGH aus, dass der Reemtsma-Anspruch eine Ausnahme darstellt, von der nur Gebrauch gemacht werden kann, wenn der Leistungsempfänger alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Das ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Denn der Leistungserbringer hätte sich in Italien für Zwecke der MwSt registrieren lassen können und unter Angabe einer italienischen UID-Nummer dem Leistungsempfänger eine Rechnung mit ausgewiesener italienischer MwSt ausstellen können, die diesen dort zum VSt-Abzug berechtigt hätte. Die Ausstellung einer solchen Rechnung hätte der Leistungsempfänger beim Leistungserbringer zivilrechtlich geltend machen können.

Conclusio

Die vorliegende Entscheidung des EuGH präzisiert das Verhältnis zwischen dem Reemtsma-Anspruch und zivilrechtlichen Ansprüchen des Leistungsempfängers gegen den Leistungserbringer und bekräftigt die Eigenschaft des Reemtsma-Anspruchs als ultima ratio. Denn ein Reemtsma-Anspruch steht nach der hier vorliegenden Rsp nur dann zu, wenn der Leistungsempfänger auf dem Zivilrechtsweg die Ausstellung einer Rechnung mit italienischer MwSt vom Leistungserbringer begehrt hätte. Selbst dann, wenn die USt nicht bereits an den Leistungserbringer erstattet worden wäre, wäre in Ermangelung der Beschreitung des Zivilrechtswegs dem Leistungsempfänger nach der vorliegenden Entscheidung ein Reemtsma-Anspruch nicht zugestanden. Wäre umgekehrt zwar der Zivilrechtsweg bereits beschritten worden, wäre es jedoch trotzdem nicht zur Erstattung der USt durch den Leistungsempfänger gekommen, weil bereits an den Leistungserbringer erstattet worden war. Somit muss für das Bestehen des Reemtsma-Anspruchs – zumindest im hier vorliegenden Sonderfall – erstens erfolglos im Zivilrechtsweg die Ausstellung einer Rechnung durch den Leistungsempfänger verlangt worden sein und zweitens darf es nicht zu einer doppelten Erstattung der USt kommen.

In der Literatur wurde kritisiert, dass der Leistungsempfänger durch den Reemtsa-Anspruch in der Insolvenz des Leistungserbringers gegenüber dessen anderen Gläubigern bevorzugt wird, da er nicht nur quotenmäßig befriedigt wird, sondern die zu viel gezahlte USt vollständig erstattet wird (Borns/Komár/Mittendorfer, EuGH Update – Umsatzsteuer, ecolex 2024, 169 [171]). Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des EuGH zu begrüßen, wird doch verdeutlicht, dass es zu dieser Bevorzugung nur dann kommen kann, wenn sämtliche anderen Mittel ausgeschöpft sind.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 36133 vom 29.11.2024