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EuGH zur Berichtigung der Steuerschuld ohne Rechnungsberichtigung

Bearbeiter: Rainer Borns

MwStSyst-RL: Art 1, Art 226

Abstract

Der EuGH hatte zu entscheiden, ob die Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass eine Berichtigung einer Mehrwertsteuererklärung auch dann zugelassen werden muss, wenn keine Rechnungen, sondern Registrierkassenbons ausgestellt worden sind und daher keine Rechnungsberichtigung möglich ist. Dabei war insb fraglich, ob eine Rechnungsberichtigung für jene Steuerpflichtige vorausgesetzt werden kann, die aufgrund der Art und des Umfangs der Umsätze nicht zur Ausstellung von Rechnungen verpflichtet sind.

EuGH 21. 3. 2024, C-606/22, B. sp. j

Sachverhalt

B erbringt in Polen Dienstleistungen im Zusammenhang mit Freizeitaktivitäten und der Verbesserung der körperlichen Fitness. Für die Jahre 2012–2014 wandte B auf diese Dienstleistungen den (polnischen) Normalsteuersatz iHv 23 % an. Im Jahr 2016 entschied B im Einklang mit der Ansicht der polnischen steuerrechtlichen Literatur, dass der besondere Steuersatz iHv 8 % auf diese Leistungen zur Anwendung kommt. Daraufhin beantragte B eine Berichtigung der Mehrwertsteuererklärungen für die Jahre 2012–2014 und eine Rückzahlung der zu hoch ausgewiesenen Mehrwertsteuer.

Das FA lehnte eine dementsprechende Berichtigung mit dem Argument ab, dass B keine Rechnungen über die Leistungen ausgestellt habe und für die Berichtigung der Erklärung eine Berichtigung der Rechnungen notwendig sei. Das von B angerufene Gericht gab der Beschwerde statt. Demnach ist der Steuerpflichtige berechtigt, den Betrag der für die Verkäufe geschuldeten Steuer zu berichtigen. Das Fehlen des dem Käufer ausgehändigten originalen Kassenbons ist kein Hindernis, da die Registrierkasse ein mehrfaches Auslesen der darin gespeicherten Daten ermöglicht. Das vom FA angerufene Oberste Verwaltungsgericht legte daraufhin dem EuGH die Frage vor, ob die Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung dahin auszulegen sind, dass eine Berichtigung einer Mehrwertsteuererklärung auch dann möglich ist, wenn keine Rechnungen, sondern Registrierkassenbons ausgestellt wurden.

Entscheidung des EuGH

Zunächst hält der EuGH fest, dass die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaates den Neutralitätsgrundsatz unverhältnismäßig beeinträchtigen würde, wenn sie den Steuerpflichtigen mit der Umsatzsteuer belastet, auf deren Erstattung der Steuerpflichtige einen Anspruch hat. Bevor daher zu klären ist, ob eine Berichtigung der Mehrwertsteuererklärung auch ohne Rechnungsberichtigung möglich ist, stellt sich die Frage, ob der Steuerpflichtige einen Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer hat. Eine Erstattung ist dann nicht möglich, wenn diese zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Anspruchsberechtigten führt. Diesbezüglich führt der EuGH aus, dass die Mehrwertsteuer nur den Endverbraucher belasten soll, wobei dies noch nicht zwingend bedeutet, dass eine Erstattung jedenfalls eine ungerechtfertigte Bereicherung darstellt. So kann dem Steuerpflichtigen durch die Anwendung des unrichtigen – zu hohen – Steuersatzes ein wirtschaftlicher Schaden aufgrund eines Absatzrückganges entstehen. Ein solcher wirtschaftlicher Schaden genügt für die Zulässigkeit einer Erstattung. Ob im vorliegenden Fall ein solcher Schaden angenommen werden kann, ist – so der EuGH – eine Sachverhaltsfrage, die in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt.

Besteht ein solcher Schaden, ist weiters zu prüfen, ob der Rückzahlungsanspruch von einer Rechnungsberichtigung abhängig gemacht werden kann. Ist der Steuerpflichtige aufgrund der Art und der Höhe der Umsätze nicht zur Rechnungsstellung verpflichtet, verstößt die Praxis, eine Berichtigung der Mehrwertsteuererklärung von einer Rechnungsberichtigung abhängig zu machen, gegen den Effektivitätsgrundsatz. Zudem wird der Steuerpflichtige im vorliegenden Fall gegenüber anderen unmittelbaren Wettbewerbern benachteiligt, die den ermäßigten Steuersatz richtigerweise angewandt haben. Daher verstößt die Praxis der Steuerverwaltung auch gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität.

Conclusio

Im vorliegenden Fall hat der EuGH entschieden, dass das Verlangen einer Rechnungsberichtigung für die Berichtigung der Mehrwertsteuererklärung gegen die Grundsätze der Effektivität und der Neutralität verstößt, wenn der Steuerpflichtige nicht zur Rechnungsausstellung verpflichtet ist. Diese Ausführung ist insb vor dem Hintergrund der Rs P-GmbH (EuGH 8. 12. 2022, C-378/21, P-GmbH, Rn 24) konsistent. In dieser Entscheidung hat der EuGH festgehalten, dass im Falle von B2C-Geschäften bei erfolgter Rechnungsausstellung keine Rechnungsberichtigung notwendig ist, um eine Mehrwertsteuererstattung zu erhalten. Dies wurde damit begründet, dass bei B2C-Geschäften mangels Vorsteuerabzugs des Leistungsempfängers keine Gefährdung des Steueraufkommens besteht. Im vorliegenden Fall hat der EuGH festgehalten, dass das Fehlen der Rechnungen rechtmäßig ist. Basierend auf Art 220 Abs 1 Z 1 MwStSyst-RL kann daher davon ausgegangen werden, dass den Leistungen im vorliegenden Fall B2C-Geschäfte zugrunde gelegen sind. Art 220 Abs 1 Z 1 MwStSyst-RL sieht nämlich lediglich für B2B-Geschäfte eine verpflichtende Rechnungsausstellung vor. Basierend auf der Annahme, dass es sich um B2C-Geschäfte handelt, kann auch im vorliegenden Fall von keiner Gefährdung des Steueraufkommens ausgegangen werden. Wenn selbst bei erfolgter Rechnungsstellung (Rs P-GmbH) keine Berichtigung notwendig ist, ist es konsistent auch bei (rechtmäßigem) Fehlen einer Rechnung keine Rechnungsberichtigung für die Mehrwertsteuerrückerstattung vorauszusetzen.

Zudem reiht sich diese Entscheidung in die stRsp des EuGH (EuGH 16. Mai 2013, C‑191/12, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, EU:C:2013:315, Rn 28) ein, wonach eine Erstattung der Mehrwertsteuer versagt werden kann, wenn diese zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Steuerpflichtigen führt. Eine Bereicherung ist insb dann anzunehmen, wenn die Steuer zur Gänze an den Endverbraucher überwälzt wurde und mit der zu hoch ausgewiesenen Steuer kein wirtschaftlicher Schaden (zB Absatzrückgang) beim leistenden Unternehmer verbunden ist. Dies muss anhand einer wirtschaftlichen Analyse im Einzelfall überprüft werden. Weisen andere Steuerpflichtige im selben Wirtschaftssektor den richtigen (niedrigeren) Steuersatz aus, kann wohl von einem wirtschaftlichen Schaden für den Steuerpflichtigen, der einen zu hohen Steuersatz ausweist, ausgegangen werden.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35528 vom 11.06.2024