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EuGH zur Erstattung der MwSt für einen nicht in einem Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen

Bearbeiter: Bence Komár

MwStSyst-RL: Art 167, 169, 170, 171 Abs 1

RL 2008/9/EG: Art 20, 21, 23

Abstract

Ein Einspruch gem Art 23 Abs 2 Unterabs 1 RL 2008/9/EG unterliegt hinsichtlich seiner Form und Frist der innerstaatlichen Rechtsordnung des Mitgliedstaats der MwSt-Erstattung. Im vorliegenden Fall musste sich der EuGH mit der Frage auseinandersetzen, ob eine nationale Regelung, die es einem Steuerpflichtigen verbietet, neue Beweise vorzulegen, die ihm bereits vor der erstinstanzlichen Entscheidung bekannt waren (nova reperta), gegen leg cit verstößt.

EuGH 16. 5. 2024, C-746/22, Slovenské Energetické Strojárne a.s.

Sachverhalt

Slovenské Energetické Strojárne (SES) ist eine in der Slowakei ansässige Gesellschaft. 2020 führte sie Montage- und Installationsarbeiten in einem Kraftwerk in Ungarn durch und erwarb zu diesem Zweck in Ungarn verschiedene Gegenstände und Dienstleistungen. Sie beantragte die Erstattung der MwSt auf diese Eingangsumsätze iSd Art 170 MwStSyst-RL iVm RL 2008/9/EG. Die ungarische Steuerbehörde richtete ein Auskunftsersuchen gem Art 20 Abs 1 RL 2008/9/EG an SES und forderte sie auf, eine Reihe von Unterlagen iZm dem Antrag auf MwSt-Erstattung innerhalb eines Monats vorzulegen. SES kam diesem Ersuchen nicht nach, weswegen die Steuerbehörde das Verfahren einstellte und SES keine MwSt-Erstattung gewährte. Dagegen legte die Gesellschaft Einspruch bei der Steuerbehörde zweiter Instanz ein. Diesem Einspruch fügte sie die iRd Auskunftsersuchens angeforderten Unterlagen nachträglich bei. Die Behörde zweiter Instanz hielt die erstinstanzliche Entscheidung aufrecht und führte insbesondere aus, dass sie dem Einspruch beigefügten Unterlagen nicht berücksichtigen könne. § 124 Abs 3 der ungarischen Steuerverwaltungsordnung verbiete nämlich die Vorlage neuer Beweise, die dem Einspruchsführer vor dem Erlass des erstinstanzlichen Bescheids bekannt waren (nova reperta). SES erhob dagegen Klage beim vorlegenden Gericht, das den EuGH ua fragte (erste und zweite Vorlagefrage), ob das Verbot der Vorlage neuer Beweise im nationalen Recht gegen die Anforderungen an Einsprüche gem Art 23 Abs 2 RL 2008/9/EG (erste Frage) und gegen die Art 167, 169, 170, 171 Abs 1 MwStSyst-RL, Art 47 GRC sowie die Grundsätze der Neutralität, Effektivität und Verhältnismäßigkeit verstößt (zweite Frage). Der EuGH prüfte die beiden Vorlagefragen zusammen.

Entscheidung des EuGH

Die RL 2008/9/EG regelt die Einzelheiten der MwSt-Erstattung an nicht im Erstattungsstaat ansässige Steuerpflichtige (vgl Art 170 MwStSyst-RL). Durch die Erstattung wird der Unternehmer im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit von der im EU-Ausland geschuldeten oder entrichteten MwSt entlastet (ähnlich zum VSt-Abzug, den der Unternehmer in seinem Ansässigkeitsstaat geltend machen kann). Auf dieser Weise gewährleistet das MwStSyst die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten. Dieses Grundprinzip erfordert, dass die MwSt-Erstattung gewährt wird, wenn alle materiellen Voraussetzungen erfüllt sind (EuGH 21. 10. 2021, C-396/20, CHEP Equipment Pooling, Rn 37).

Das nationale Verbot der Vorlage neuer Beweise (§ 124 der ungarischen Steuerverwaltungsordnung) bewirkt, dass Steuerpflichtige, die zwar verspätet auf eine Anfrage gem Art 20 RL 2008/9/EG reagieren, aber alle materiellen Voraussetzungen für die Erstattung erfüllen, von der Erstattung systematisch ausgeschlossen werden. Diese Vorgehensweise verstößt gegen das ebengenannte Prinzip der Neutralität. Außerdem hatte der EuGH bereits entschieden, dass die in Art 20 Abs 2 RL 2008/9/EG vorgesehene Frist keine Präklusionsfrist ist. Gegen eine negative Entscheidung der nationalen Steuerverwaltung kann ein Steuerpflichtiger Einspruch gem Art 23 Abs 2 Unterabs 2 RL 2008/9/EG erheben. Im Rahmen eines solchen Einspruchs können Mängel des Erstattungsantrags behoben werden, indem der Steuerpflichtige zusätzliche Daten zum Nachweis seines Rechts auf MwSt-Erstattung vorlegt (EuGH 2. 5. 2019, C-133/18, Sea Chefs Cruise Services, Rn 48). Des Weiteren verstößt die gegenständliche nationale Regelung gegen das Recht auf eine gute Verwaltung – ein Grundprinzip des Unionsrechts. Dieses verlangt von einer nationalen Verwaltungsbehörde, dass sie alle relevanten Gesichtspunkte eines Antrags sorgfältig und unvoreingenommen prüft. Sie muss sicherstellen, dass sie bei Erlass ihrer Entscheidung über vollständige und verlässliche Daten verfügt (EuGH 21. 10. 2021, C-396/20, CHEP Equipment Pooling, Rn 48; 14. 5. 2020, C‑446/18, AgrobetCZ, Rn 43 f). Schlussendlich sieht Art 26 Abs 2 RL 2008/9/EG vor, dass ein Mitgliedstaat bei verspäteter MwSt-Erstattung (Auszahlung nach der in Art 22 Abs 1 RL 2008/9/EG vorgesehenen Zahlungsfrist) keine Zinsen zahlen muss, wenn der Steuerpflichtige die gem Art 20 RL 2008/9/EG angeforderten Daten verspätet vorlegt. Dies deutet darauf hin, dass ein Mitgliedstaat die MwSt-Erstattung selbst dann nicht völlig verwehren darf, wenn der Steuerpflichtige dem Auskunftsersuchen verspätet nachkommt. Aus den genannten Gründen verstößt die nationale Regelung gegen Art 23 Abs 1 Unterabs 1 RL 2008/9/EG.

Conclusio

Der EuGH folgt bei der MwSt-Erstattung dem Ansatz substance over form. In Bezug auf den VSt-Abzug etablierte sich bereits eine Rsp-Linie des Gerichtshofs, wonach der VSt-Abzug gewährt werden muss, wenn hierfür alle materiellen Voraussetzungen erfüllt werden, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formalen Anforderungen nicht nachkommt (vgl ua EuGH 29. 9. 2022, C-235/21, Raiffeisen Leasing, Rn 38; 15. 9. 2016, C-516/14, Barlis 06, Rn 42; 21. 10. 2010, C‑385/09, Nidera Handelscompagnie, Rn 42). Genauso wie der VSt-Abzug hat die MwSt-Erstattung die Funktion, Unternehmer vollständig von der im Rahmen ihrer gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten MwSt zu entlasten. Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Entscheidung des EuGH konsequent. Die ungarische Regelung führt dazu, dass Steuerpflichtige, die auf ein Auskunftsersuchen gem Art 20 RL 2008/9/EG verspätet reagieren, von der MwSt-Erstattung systematisch ausgeschlossen werden, obwohl sie alle materiellen Voraussetzungen erfüllen. Dies verstößt gegen das Grundprinzip der Neutralität. Die weiteren Argumente des EuGH (Art 23 RL 2008/9/EG enthält keine Präklusionsfrist, Verstoß gegen das Recht auf gute Verwaltung und Wortlaut des Art 23 leg cit) bestätigen dieses Ergebnis. In Vergleich zur ungarischen Rechtslage sieht die österreichische BAO kein Neuerungsverbot vor (§ 270 BAO). Demnach hätte ein Antragsteller in Österreich zusätzliche Informationen auch im Beschwerdeverfahren einwenden können. Dies steht in Einklang mit der hier diskutierten EuGH-Rsp.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35780 vom 23.08.2024