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EuGH zur festen Niederlassung gem Art 11 MwSt-DVO und zur Steuerschuldnerschaft gem Art 192a ff MwStSyst-RL

Bearbeiter: Bence Komár

MwStSyst-RL: Art 44, 192a

MwSt-DVO: Art 11 Abs 1 und Abs 2, Art 53

Abstract

Der EuGH setzt sich in der vorliegenden Rs einmal mehr mit den Kriterien der aktiven und passiven festen Niederlassung für Zwecke der Leistungsortsbestimmung nach Art 44 MwStSyst-RL auseinander. Außerdem äußert er sich das erste Mal zum Verhältnis der Bestimmung über die Steuerschuldnerschaft gem Art 192a MwStSyst-RL iVm Art 53 MwSt-DVO und der Definitionen über die aktive und passive feste Niederlassung gem Art 11 Abs 1 und 2 MwSt-DVO.

EuGH 13. 6. 2024, C-533/22, Adient

Sachverhalt

Adient Deutschland (AD, ansässig in Deutschland) und Adient Rumänien (AR, ansässig in Rumänien) sind zwei rechtlich voneinander unabhängige Gesellschaften, die derselben Unternehmensgruppe gehören. Sie schlossen 2016 einen Dienstleistungsvertrag ab, in dem AR sich verpflichtete, Verarbeitungsdienstleistungen für Pkw-Polsterkomponenten und weitere Hilfsdienstleistungen an AD zu erbringen. Die Verarbeitungsdienstleistungen bestanden darin, dass AD der AR Rohstoffe für die Herstellung von Autositzbezügen bereitstellte und AR diese Rohstoffe zuschnitt und nähte. Die Hilfsdienstleistungen von AR waren die Entgegennahme, Lagerung, Kontrolle und Verwaltung der Rohstoffe sowie die Lagerung der Fertigprodukte. Während des gesamten Herstellungsprozesses blieb AD Eigentümer der Rohstoffe. AR war der Ansicht, dass der Dienstleistungsort der Verarbeitungs- und Hilfsdienstleistungen an ADs Ansässigkeitsort in Deutschland lag (vgl Art 44 erster Satz MwStSyst-RL). AR stellte dementsprechend Rechnungen ohne MwSt aus.

Demgegenüber meinte die rumänische Steuerverwaltung, dass die gegenständlichen Dienstleistungen in Rumänien steuerbar seien. Sie argumentierte, dass AD über eine feste Niederlassung in Rumänien verfügte und AR ihre Dienstleistungen an diese feste Niederlassung erbrächte. Dabei berücksichtigte die Steuerverwaltung folgende Umstände: Erstens hatte AD das Recht, die Rechnungsunterlagen, Register, Berichte und sonstigen Unterlagen ARs zu prüfen und konnte von AR verlangen, dass diese sich an Programmen oder Initiativen zur Kostensenkung beteiligt. Zweitens waren die Arbeitnehmer von AR an Lieferungen von Gegenständen durch AD an ihre eigenen Kunden beteiligt. Drittens verwendeten ARs Arbeitnehmer die EDV- und Buchhaltungssysteme von AD und diese verfügte über ein Lager in Rumänien, das mit den erforderlichen Geräten und Materialien ausgestattet war. Da AD über eine feste Niederlassung in Rumänien unterhielt, die an Lieferungen durch AD an Dritte beteiligt wäre, wäre sie außerdem verpflichtet gewesen, sich als in Rumänien ansässiger Steuerpflichtiger zu registrieren (vgl Art 192a MwStSyst-RL e contrario).

Der Fall gelangte vor das Regionalgericht Argeș. Dieses Gericht rief den EuGH an (vgl Art 267 AEUV) und fragte, ob eine passive feste Niederlassung der AD in Rumänien vorliegt (Art 44 MwStSyst-RL), und ob sich AD als in Rumänien ansässige Steuerpflichtige registrieren muss (Art 192a MwStSyst-RL).

Entscheidung des EuGH

Art 11 Abs 1 MwSt-DVO definiert den Begriff „feste Niederlassung“ für Zwecke des Art 44 MwStSyst-RL. Eine feste Niederlassung ist jede Niederlassung, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit und eine Struktur aufweist, die es ihr aufgrund der personellen und technischen Ausstattung erlaubt, Dienstleistungen, die für den eigenen Bedarf dieser Niederlassung erbracht werden, zu empfangen und dort zu verwenden (passive feste Niederlassung).

Die Einstufung als feste Niederlassung hängt von den materiellen Voraussetzungen ab und nicht allein von der Rechtsform (EuGH 7. 5. 2020, C-547/18, Dong Yang Electronics, Rn 31 f). Der Umstand, dass zwei rechtlich voneinander unabhängige Gesellschaften derselben Unternehmensgruppe angehören, kann für sich allein das Vorliegen einer passiven festen Niederlassung nicht begründen. Die Tatsache, dass die Arbeitnehmer von AR an Lieferungen durch AD an ihre eigenen Kunden beteiligt waren, ist irrelevant. Denn alle festen Niederlassungen (Art 11 Abs 1 und 2 MwSt-DVO) weisen zwar das gemeinsame Merkmal auf, dass sie aus einer Struktur bestehen, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit und eine Eignung zur eigenständigen Ausübung ihrer Tätigkeiten haben. Es gilt jedoch zu unterscheiden, ob die dieser Struktur übertragenen Aufgaben darin bestehen, Dienstleistungen zu empfangen oder sie zu erbringen. Im Anlassfall ist zwischen den von AR an AD erbrachten Dienstleistungen und den Lieferungen der aus diesen Dienstleistungen herrührenden Gegenstände, die AD von Rumänien aus durchführt, zu unterscheiden. Zur Bestimmung des Ortes, an dem AD die Dienstleistungen von AR empfängt, ist der Ort zu ermitteln, an dem sich die von AD zu diesem Zweck verwendete personelle und technische Ausstattung, und nicht jener, an dem sich die von ihr für ihre Liefertätigkeit der Fertigprodukte verwendete Ausstattung befindet (vgl EuGH 29. 6. 2023, C-232/22, Cabot Plastics Belgium, Rn 40).

Sodann ist eine weitere Unterscheidung vorzunehmen. Nach der Rsp des EuGH kann ein und dieselbe Ausstattung nicht gleichzeitig von einem Steuerpflichtigen zur Erbringung und von einem anderen Steuerpflichtigen zum Empfang derselben Dienstleistungen verwendet werden (s EuGH 7. 4. 2022, C-333/20, Berlin Chemie, Rn 54 und 29. 6. 2023, C-232/222, Cabot Plastics Belgium, Rn 41). Das Vorliegen einer passiven festen Niederlassung setzt somit voraus, dass die personelle und technische Ausstattung des Leistungsempfängers identifizierbar ist und sie sich von denjenigen unterscheidet, die der leistende Unternehmer für die Erbringung seiner eigenen Dienstleistungen einsetzt. Könnte die feste Niederlassung zugleich Erbringer und Empfänger derselben Dienstleistung sein, wären nämlich Leistender und Leistungsempfänger identisch, so dass es bereits an einem steuerbaren Umsatz fehlen würde. Die von der rumänischen Steuerverwaltung aufgezeigten Umstände sind im Ergebnis für die Feststellung einer passiven Niederlassung ADs in Rumänien irrelevant.

Außerdem meinte die rumänische Steuerverwaltung, dass sich AD als in Rumänien ansässiger Steuerpflichtiger registrieren müsse (Art 192a MwStSyst-RL), weil sie über eine (passive) feste Niederlassung in Rumänien verfüge (Art 44 MwStSyst-RL). Der EuGH hält fest, dass Art 192a MwStSyst-RL in einer Situation, die ausschließlich die Bestimmung des Ortes der von AR an AD erbrachten Dienstleistung betrifft, nicht anwendbar ist. Nach Art 192a MwStSyst-RL gilt ein Steuerpflichtiger, der in dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem die Steuer geschuldet wird, über eine feste Niederlassung verfügt, als in diesem Mitgliedstaat ansässig, wenn er in diesem Mitgliedstaat einen steuerbaren Umsatz ausführt und seine Niederlassung dort am genannten Umsatz beteiligt ist. Für Zwecke des Art 192a MwStSyst-RL ist jedoch die Definition in Abs 2 von Art 11 MwSt-DVO maßgebend (s Art 11 Abs 2 lit d MwSt-DVO). Daraus wird klar, dass für Zwecke des Art 192a MwStSyst-RL nur eine aktive feste Niederlassung in Frage kommt. Folglich kann der Umstand, dass eine passive feste Niederlassung eines Steuerpflichtigen in einem Mitgliedstaat an der Lieferung von Gegenständen durch diesen Steuerpflichtigen in diesem Mitgliedstaat beteiligt ist, keine Auswirkungen auf die Bestimmung des MwSt-Schuldners für diese Umsätze haben. Im Ergebnis heißt es, dass AD auch dann nicht als in Rumänien ansässig angesehen werden kann (Art 192a MwStSyst-RL), wenn angenommen wird, dass sie über eine passive feste Niederlassung (Art 11 Abs 1 MwSt-DVO) verfügt.

Conclusio

Der EuGH bestätigt seine Rsp-Linie in den Rs Berlin Chemie und Cabot Plastics. In diesen sprach er aus, dass dieselbe Ausstattung nicht gleichzeitig zur Erbringung von Dienstleistungen und zum Empfang derselben Dienstleistungen verwendet werden kann. Im vorliegenden Urteil begründet das Gericht diese Rsp das erste Mal. Könnte eine feste Niederlassung gleichzeitig Erbringer und Empfänger derselben Dienstleistung sein, wären in diesem Fall Leistender und Leistungsempfänger identisch. Dann gäbe es keinen steuerbaren Leistungsaustausch.

Außerdem beschäftigt sich der EuGH mit dem Verhältnis der Art 192a ff MwStSyst-RL iVm Art 53 MwSt-DVO und Art 11 Abs 1 und 2 MwSt-DVO. Art 192a MwStSyst-RL regelt, unter welchen Voraussetzungen ein Steuerpflichtiger in jenem Mitgliedstaat als ansässig gilt, in dem die Steuer geschuldet wird. Hierfür muss ein Steuerpflichtiger, dessen Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit außerhalb dieses Mitgliedstaats liegt, in diesem Mitgliedstaat eine feste Niederlassung haben, steuerpflichtige Lieferungen oder Dienstleistungen erbringen und die feste Niederlassung muss an diesen Umsätzen beteiligt sein. Die rumänische Steuerverwaltung argumentierte, dass AD gem Art 192a MwStSyst-RL in Rumänien ansässig sei, weil sie über eine feste Niederlassung gem Art 11 Abs 1 MwSt-DVO (passive feste Niederlassung) in Rumänien verfüge. Unabhängig davon, ob eine solche feste Niederlassung gegeben ist, kann dem Argument der Steuerverwaltung nicht gefolgt werden, weil für Zwecke des Art 192a MwStSyst-RL ausschließlich eine aktive feste Niederlassung maßgebend ist (Art 11 Abs 2 MwSt-DVO). Die Rechtsfolge der Ansässigkeit gem Art 192a MwStSyst-RL wäre, dass die Reverse-Charge-Regelungen gem Art 194 bis 197 MwStSyst-RL nicht zur Anwendung gelangen. Würde AD Lieferungen oder Dienstleistungen in Rumänien ausführen, an denen eine aktive(!) feste Niederlassung von ihr beteiligt wäre (s Art 53 MwSt-DVO für das Kriterium des Beteiligtseins), dann wäre AD und nicht der Empfänger der Lieferungen Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus. Im Übrigen verfügte AD laut Sachverhalt über eine rumänische MwSt-Identifikationsnummer, die sie für ihre Lieferungen in Rumänien tatsächlich auch verwendete (s Rn 16 des vorliegenden Urteils). Dieser Umstand wurde von der rumänischen Steuerverwaltung offenbar übersehen.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35781 vom 26.08.2024