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MwStSyst-RL: Art 2 Abs 1
MwStSyst-RL: Art 9 Abs 1
Abstract
Der EuGH hatte zu entscheiden, ob die unrechtmäßige Entnahme von Strom und der darauffolgende Vergleich über die Nachzahlung dieser Stromkosten als Leistung gegen Entgelt iSd Art 2 Abs 1 MwStSyst-RL zu qualifizieren sind und in weiterer Folge eine Lieferung iSd Art 14 Abs 1 MwStSyst-RL darstellen. Bejahendenfalls wurde dem EuGH zudem die Frage vorgelegt, ob eine solche Lieferung eine wirtschaftliche Tätigkeit iSd Art 9 Abs 1 MwStSyst-RL begründet.
EuGH 27. 4. 2023, C-677/21, Fluvius Antwerpen
Sachverhalt
Fluvius ist eine Vereinigung zur interkommunalen Zusammenarbeit, der mehrere Gemeinden angehören. Die Gemeinden betrauen Fluvius ua mit der Durchführung der Energieverteilung. Fluvius tritt als Verteilernetzbetreiber auf, der den Strom zu den einzelnen Anlagen transportiert und dort für die Installation, Inbetriebnahme und Ablesung der Zähler verantwortlich ist. Im Zeitraum 2017 bis 2019 verbrauchte MX unrechtmäßig Strom. Nachdem Fluvius diesen unrechtmäßigen Verbrauch festgestellt hatte, wurde auf Basis eines Vergleichs für diesen Zeitraum eine Rechnung iHv ca EUR 800,– inkl USt ausgestellt. MX bezahlte diese Rechnung nicht. Daraufhin klagte Fluvius MX. Das Friedensgericht Antwerpen entschied daraufhin, dass MX Fluvius die Kosten für die unrechtmäßig entnommene Energie ersetzen muss. Allerdings äußerte das Gericht Zweifel daran, ob im vorliegenden Fall Mehrwertsteuer anfällt. Daher legte das Friedensgericht Antwerpen dem EuGH vier Vorlagefragen vor. In den ersten beiden Fragen war für das vorlegende Gericht unklar, ob die Lieferung von Elektrizität eine Leistung gegen Entgelt iSd Art 2 Abs 1 MwStSyst-RL und bejahendenfalls eine Lieferung iSd Art 14 Abs 1 MwStSyst-RL ist, wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und auf einem rechtswidrigen Handeln eines Dritten beruht. In der dritten und vierten Vorlagefrage wollte das Friedensgericht Antwerpen wissen, ob die besagte Lieferung eine wirtschaftliche Tätigkeit begründet.
Entscheidung des EuGH
Bezüglich der ersten beiden Vorlagefragen führt der EuGH aus, dass nach stRsp der Grundsatz der steuerlichen Neutralität eine allgemeine Differenzierung zwischen unerlaubten und erlaubten Geschäften verbietet (EuGH 10. 11. 2011, The Rank Group, C-260/10, Rn 45). Zudem weist der Gerichtshof darauf hin, dass Art 15 Abs 1 MwStSyst-RL Elektrizität einem körperlichen Gegenstand gleichstellt – vorausgesetzt diese „Lieferung“ erfolgt gegen Entgelt iSd Art 2 Abs 1 lit a MwStSyst-RL. Eine Lieferung gegen Entgelt ist dann anzunehmen, wenn zwischen der Lieferung und der vom Steuerpflichtigen empfangenen Gegenleistung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Da MX den Strom an seiner Wohnadresse entnommen hatte und Fluvius diese Menge durch Ablesen des Zählers feststellen konnte, ist von einem unmittelbaren Zusammenhang auszugehen, wodurch eine Leistung gegen Entgelt iSd Art 2 Abs 1 lit a MwStSyst-RL begründet wird. Bezüglich der Frage, ob eine solche Lieferung von Gegenständen als Übertragung der Befähigung, über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen, iSd Art 14 Abs 1 definiert werden kann, führt der EuGH aus, dass Fluvius MX mehr als zwei Jahre mit Strom versorgte und sich MX gegenüber Fluvius wie ein Kunde verhielt. Da er den Strom verbrauchte, trat er als Eigentümer des Stromes auf. Folglich ist die Lieferung von Elektrizität, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis des rechtswidrigen Handelns eines Dritten ist, eine Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt iSd Art 14 Abs 1 MwStSyst-RL.
Bezüglich der letzten beiden Fragen führt der EuGH aus, dass der Wortlaut und der objektive Charakter des Art 9 Abs 1 MwStSyst-RL darauf schließen lassen, dass die Tätigkeit an sich, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, betrachtet werden soll. Eine Tätigkeit wird als wirtschaftlich angesehen, wenn sie nachhaltig ist und gegen Entgelt ausgeübt wird. Bei Vorliegen dieser beiden Voraussetzungen – die hier vom vorlegenden Gericht in weiterer Folge zu prüfen sind – ist Art 9 Abs 1 MwStSyst-RL dahingehend auszulegen, dass die Lieferung von Elektrizität, auch wenn sie unbeabsichtigt erfolgt und das Ergebnis eines rechtswidrigen Handelns ist, eine wirtschaftliche Tätigkeit ist. Das Verlustrisiko infolge eines Diebstahls stellt ein typisches Geschäftsrisiko der wirtschaftlichen Tätigkeit dar. An der Einordnung der Tätigkeit unter Art 9 Abs 1 MwStSyst-RL ändert auch die mögliche Qualifikation von Fluvius als Einrichtung öffentlichen Rechts nach Art 13 MwStSyst-RL nichts, weil die Tätigkeit jedenfalls keine unbedeutende Leistung iSd Art 13 Abs 1 UAbs 3 MwStSyst-RL ist und daher der Mehrwertsteuer zu unterwerfen ist.
Conclusio
Der EuGH geht im vorliegenden Fall – wie bereits zuvor in stRsp (siehe etwa EuGH 10. 11. 2011, The Rank Group, C-260/10, Rn 45) – davon aus, dass das Umsatzsteuerrecht nicht zwischen erlaubten und unerlaubten Handlungen differenziert. Folglich gelten für unerlaubte Leistungen – wie im vorliegenden Fall – die gleichen Regeln wie für erlaubte. Damit eine Lieferung gegen Entgelt iSd Art 2 Abs 1 MwStSyst-RL angenommen werden kann, bedarf es eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Leistung und Gegenleistung (EuGH 3. 3. 1994, Tolsma, C-16/93). Ein derartiger Konnex setzt voraus, dass ein Leistungswille besteht. Während in der Literatur bei einem „klassischen“ Diebstahl mangels Leistungswillens von keinem unmittelbaren Zusammenhang ausgegangen wird (Windsteig in Melhard/Tumpel, UStG3 [2021] § 1 Rz 40), ergibt sich im vorliegenden Fall ein differenziertes Ergebnis: Fluvius leistete in dem Glauben, einen Kunden zu versorgen, weil sich MX auch wie ein Kunde verhielt und den Strom verbrauchte. Folglich kann Fluvius auch ein Leistungswillen unterstellt werden, wodurch sich dieser Fall vom „klassischen“ Diebstahl unterscheidet. Aufgrund des Willens, eine Leistung zu erbringen, und des späteren Vergleichs ist von einer Leistung gegen Entgelt iSd Art 2 Abs 1 MwStSyst-RL auszugehen (Mayr, SWK 2023, 740 [742]).
Die Ausführung des EuGH, dass der Verkauf von Strom als Lieferung iSd Art 14 Abs 1 MwStSyst-RL zu qualifizieren ist, kann auch auf das österreichische Recht übertragen werden. Auch wenn Art 15 MwStSyst-RL, der explizit vorsieht, dass Elektrizität ein körperlicher Gegenstand und somit einer Lieferung iSd Art 14 MwStSyst-RL zugänglich ist, in Österreich nicht explizit umgesetzt wurde, so findet die Bestimmung doch implizit eine Umsetzung in § 3 Abs 13 und 14 UStG. Auf Basis dieser Leistungsortregeln kann der Verkauf von Elektrizität auch in Österreich als Lieferung iSd § 3 Abs 1 UStG qualifiziert werden (siehe dazu auch Borns/Komar/Mittendorfer, EuGH Update – Umsatzsteuer, ecolex 2023 [in Druck]).