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Lockdown-Umsatzersatz – von VfGH aufgehobene Norm

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

B-VG: Art 139

Hat der VfGH eine Norm aufgehoben (hier: VfGH 5. 10. 2023, V 145/2022, Rechtsnews 34878, betr Lockdown-Umsatzersatz), die Anlassfallwirkung aber nicht gem Art 139 Abs 6 B-VG ausgedehnt, ist diese Norm in einem späteren Verfahren über einen Teilbetrag, der im Anlassprozess nicht streitgegenständlich war, weiterhin anuzwenden. Der VfGH ist zur Ausdehnung der Anlassfallwirkung ermächtigt, aber nicht verpflichtet. Ob und wie er von der Ermächtigungsausdehnung der Anlassfallwirkung Gebrauch macht, liegt in seinem Ermessen. Der Ausspruch der (Verfassungs- oder) Gesetzwidrigkeit gilt nicht absolut, sondern nur für die davon erfassten (Anlass- oder „Quasianlass“-)Fälle. Die Voraussetzungen des § 879 Abs 1 ABGB (Gesetz- oder Sittenwidrigkeit) liegen demnach hier nicht vor.

OGH 19. 11. 2024, 1 Ob 141/24b

Ausgangsfall

Die Kl ist Gesamtrechtsnachfolgerin einer GmbH, über die im Jahr 2017 rk eine teilbedingte Verbandsgeldbuße wegen vorsätzlicher Abgabenhinterziehung verhängt worden war; der unbedingte Teil betrug 20.000 €, der bedingte Teil wurde für eine Probezeit von drei Jahren nachgesehen.

Diese GmbH betrieb Fitnessstudios, die aufgrund eines COVID-19-bedingten Lockdowns vom 3. 11. 2020 bis 19. 5. 2021 zwangsweise geschlossen waren. Die Anträge der GmbH auf Lockdown-Umsatzersatz für November 2020 und Dezember 2020 wurden von der COFAG (COVID-19 Finanzierungsagentur des Bundes GmbH) abgelehnt.

Einen Teilbetrag an Lockdown-Umsatzersatz (für November 2020) machte die Rechtsvorgängerin der Kl in einem Vorprozess vor dem ErstG geltend und stellte dort einen Parteiantrag auf Normenkontrolle nach Art 139 Abs 1 Z 4 B-VG, auf dessen Grundlage der VfGH ua eine Wortfolge (betr das Ausschlusskriterium einer rk Finanzstrafe oder entsprechende Verbandsgeldbuße iHv mehr als 10.000 € in den letzten 5 Jahren vor Antragstellung) in Punkt 3.1.7 des Anhangs 1 zur VO Lockdown-Umsatzersatz, BGBl II 2020/503, wegen Gesetzwidrigkeit mit Ablauf des 15. 4. 2024 aufhob - ebenso wie (über Antrag eines anderen Antragstellers) die inhaltsgleiche Bestimmung in der 3. VO Lockdown-Umsatzersatz, BGBl II 2020/567 (VfGH 5. 10. 2023, V 145/2022, Rechtsnews 34878).

Mit der vorliegenden Klage begehrt die Kl nun (restlichen) Lockdown-Umsatzersatz für November 2020 sowie Lockdown-Umsatzersatz für Dezember 2020. Das Ausschlusskriterium der Verhängung einer rk Finanzstrafe oder Verbandsgeldbuße sei auf sie oder ihre Rechtsvorgängerin nicht mehr anzuwenden, weil sich die Anlassfallwirkung der Aufhebung der entsprechenden Bestimmungen durch den VfGH auch auf das vorliegende Verfahren erstrecke. Maßgeblich für die Anlassfallwirkung sei der rechtserzeugende Sachverhalt in dem Verfahren, das den Ausgangspunkt für den Antrag auf Normenkontrolle bildete. Dieser rechtserzeugende Sachverhalt sei im Vorprozess derselbe gewesen wie im vorliegenden Verfahren.

Entscheidung

Hat der VfGH in seinem aufhebenden Erk eine Frist gem Art 139 Abs 5 B-VG gesetzt (hier: 15. 4. 2024), ist die Verordnung auf alle bis zum Ablauf dieser Frist verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalls anzuwenden - also auch im vorliegenden Fall, weil sich der zu beurteilende Sachverhalt bereits vor dem 15. 4. 2024 konkretisiert hat.

Die Teileinklagung eines Umsatzersatzes für November 2020 im Vorprozess führt nicht dazu, dass sich die Anlassfallwirkung auch auf den nunmehr geltend gemachten restlichen Umsatzersatz für diesen Monat erstreckte: Bei der Teileinklagung tritt die Streitanhängigkeit nur bezüglich des eingeklagten Teils ein und die Rechtskraftwirkung des Urteils erstreckt sich auch nur darauf. Hinsichtlich des Restanspruchs kann das Urteil keine Rechtskraft erzeugen (RS0039155). Es entsteht auch keine Bindungswirkung für den restlichen Anspruch (RS0041449 [T2]). Das gilt auch für den Fall der sogenannten „verdeckten“ Teileinklagung, also dann, wenn die erste Klage nicht ausdrücklich als Teilklage bezeichnet wurde (vgl RS0041449).

Der VfGH geht davon aus, dass für den Anlassfall der unmittelbare Zusammenhang zwischen einer Beschwerde und der Gesetzesaufhebung wegen Verfassungswidrigkeit charakteristisch ist. Eine Erweiterung des Begriffs des Anlassfalls dahin, dass ein einmal erfolgreich gewesener Bf dem aufgehobenen Gesetz nicht mehr unterliege, ist mit diesem konkreten Zusammenhang unvereinbar (VfGH B 4/67, VfSlg 5466).

Der Begriff „Anlassfall“ wird in der Lit möglicherweise unterschiedlich definiert. Unabhängig davon, ob man in den Definitionen der Lit überhaupt einen Unterschied sehen will, führt dies im gegenständlichen Fall der Geltendmachung einer Teilforderung zu keiner anderen Beurteilung: Ausgangspunkt ist der zweigliedrige Streitgegenstandsbegriff, der durch den Sachantrag, hier also das Begehren auf Zahlung eines bestimmten Betrags, und die dazu in der Begründung der Klage vorgetragenen Tatsachen bestimmt wird. Nur das Begehren (Zahlung von 25.000 € sA) und der dazu erstattete Sachvortrag im Vorprozess (Erfüllung der Voraussetzungen der VO Lockdown-Umsatzersatz mit Ausnahme des – dann aufgehobenen – Punktes) sind von der Anlassfallwirkung des VfGH-Erk erfasst (vgl VfGH B 182/79, VfSlg 9321).

Da die Rechtskraftwirkung des Urteils nur bezüglich des eingeklagten Teils eingetreten ist und in Ansehung des weiteren Anspruchs keine Rechtskraft erzeugen kann (RS0039155), war Anlassfall hier allein die Teilforderung von 25.000 € an Lockdown-Umsatzersatz für November 2020. Die nunmehr geltend gemachte Restforderung für November 2020 ist von der Anlassfallwirkung nicht erfasst.

Der Ausschlussgrund einer rk Finanzstrafe oder entsprechenden Verbandsgeldbuße nach den Punkten 3.1 der Anlagen 1 zu den beiden aus zeitlicher Sicht anwendbaren VO Lockdown-Umsatzersatz und 3. VO Lockdown-Umsatzersatz liegt bei der Rechtsvorgängerin der Kl vor. Entgegen der Ansicht der Kl kommt es für das Vorliegen dieses Ausschlussgrundes auch nicht darauf an, ob der unbedingte Teil der Geldstrafe vor ihrer Gesamtrechtsnachfolge bereits zur Gänze gezahlt wurde und die Probezeit für den bedingten Teil der Verbandsgeldbuße „bereits seit langem“ beendet war.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 36366 vom 05.02.2025