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Schlussanträge zur RS Consortium Remi Group: Zeitpunkt der voraussichtlichen Nichtbezahlung für Rechnungsberichtigung ausschlaggebend?

Bearbeiter: Severin Schragl

MwStSystRL: Art 66, Art 90, Art 194 ff

GRC: Art 20

Abstract

Im Mehrwertsteuersystem der EU ist eine zu späte Begleichung oder Nichtbegleichung einer Rechnung insoweit besonders ungünstig, als der Stpfl die MwSt selbst dann vorleisten muss, wenn der Leistungsempfänger den im Kaufpreis enthaltenen Steuerbetrag noch nicht an ihn gezahlt hat. Entsprechend bedarf es für den Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Entgelts Regelungen zur nachträglichen Verminderung der MwSt. Bulgarien hat die Möglichkeit der Verminderung erst bei einer Änderung der Rechnung des vorgesehen. Generalanwältin Kokott hat sich in ihrem Schlussantrag ua mit der Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit Unionsrecht sowie einigen Folgefragen auseinandergesetzt.

GA Kokott, 7. 9. 2023, C-314/22, Consortium Remi Group

Sachverhalt

Die Consortium Remi Group (CRG) mit Sitz in Bulgarien erbrachte Leistungen und Lieferungen im Bausektor. In den Jahren 2006 bis 2010 und 2012 stellte sie fünf bulgarischen Gesellschaften Rechnungen aus, in denen MwSt ausgewiesen war. Da die geschuldete MwSt insb aufgrund von Insolvenzverfahren der Leistungsempfänger nicht mehr eingetrieben werden konnten, ist die CRG davon ausgegangen, dass ihr eine entsprechende Forderung gegen den Fiskus zustehe. Der Antrag auf Verrechnung der USt mit öffentlich-rechtlichen Verbindlichkeiten wurde mit Verrechnungs- und Erstattungsbescheid ua mit der Begründung abgelehnt, dass das bulgarische Steuerrecht keine Möglichkeit vorsieht, die Bmgl bei (teilweiser) Nichtbezahlung des Entgelts zu vermindern. In zweiter Instanz legte das bulgarische oberste Verwaltungsgericht dem EuGH einige Rechtsfragen iZm der Unionsrechtskonformität der bulgarischen Rechtlage und Folgefragen vor.

Schlussantrag der Generalanwältin Kokott

Zur Auslegung des Art 90 Abs 2 MwStSystRL stellt GA Kokott in Einklang mit der stRsp des EuGHzunächst fest, dass der Ausschluss der Berichtigung der Bemessungsgrundlage bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung gegen Unionsrecht verstoße und nicht von der Abweichungsbefugnis des Abs 2 leg cit gedeckt ist. Eine richtlinienkonforme Auslegung des bulgarischen Rechts scheint nicht möglich zu sein, weswegen Art 90 Abs 1 MwStSystRL unmittelbar zur Anwendung kommt.

Eine zeitliche Beschränkung des Rechts auf Berichtigung der Bemessungsgrundlage ist grundsätzlich vom Gestaltungsspielraum hinsichtlich Formalitäten erfasst und widerspricht Art 90 Abs 1 MwStSystRL nicht. Die nationale Ausgestaltung einer solchen Frist muss allerdings in Einklang mit den unionsrechtlichen Prinzipien des Mehrwertsteuerrechts stehen. In diesem Zusammenhang sind sowohl die Grundwertungen des Art 90 Abs 1 MwStSystRL als „fundamentale[r] Grundsatz der Mehrwertsteuerrichtlinie“ zu beachten, wonach die Steuerbemessungsgrundlage dem tatsächlich erhaltenen Entgelt entsprechen muss. Zum anderen ist dabei auch dem Neutralitätsgrundsatz Rechnung zu tragen. Die Ausschlussfrist kann hierbei erst ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnen, ab dem das Recht auf Verminderung der Bemessungsgrundlage in Anspruch genommen werden kann. Insgesamt kann damit nicht der Zeitpunkt der Leistungsausführung oder Rechnungslegung für den Beginn einer Befristung der Berichtigung der Bemessungsgrundlage bei Nichtbezahlung maßgebend sein. Mangels einer näheren zulässigen Bestimmung des Zeitpunkts (hinreichende Wahrscheinlichkeit bis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) kommt der letztmögliche Zeitpunkt für den Beginn der Ausschlussfrist in Betracht (vgl EuGH 3. 3. 2021, C-507/20, FGSZ, EU:C:2021:157, Rn 28 und Tenor).

Die „entscheidende Frage“ ist nach Ansicht GA Kokott jedoch, wann die Verminderung der Bemessungsgrundlage bei Nichtbezahlung zugunsten des Stpfl erfolgen kann. Da es sich bei Art 90 MwStSystRL um ein Recht des Stpfl handelt, muss nämlich dieser einschätzen, ab wann auf absehbare Zeit nicht mehr mit Zahlung zu rechnen ist. Der späteste Zeitpunkt zur Durchführung der Verminderung der Bemessungsgrundlage ist nach der Rsp des EuGH (EuGH 3. 3. 2021, C‑507/20, FGSZ, EU:C:2021:157; vgl 23. 11. 2017, C-246/16, Di Maura, EU:C:2017:887, Rn 27 und 28) der Zeitpunkt, in dem mit Sicherheit feststeht, dass keine Bezahlung des ausgeführten Umsatzes mehr stattfinden wird (etwa bei Abschluss eines Insolvenzverfahrens des Leistungsempfängers). Das Abstellen auf eine „endgültige Uneinbringlichkeit“ sei hingegen unverhältnismäßig (EuGH 23. 11. 2017, C-246/16, Di Maura, EU:C:2017:887, Rn 27). Der frühestmögliche Zeitpunkt für eine Verminderung der Bemessungsgrundlage soll hingegen „zeitnahe“ sein (Art 66 lit b iVm Art 194 ff MwStSystRL iVm Art 20 GRC [Gleichbehandlungsgrundsatz]). Entscheidend sollte dabei der Zeitpunkt sein, ab dem feststeht, dass eine Forderung auf absehbare Zeit nicht durchsetzbar ist. Der MS kann zwar einen Nachweis für eine wahrscheinlich länger dauernde Nichtbezahlung, also einen Versuch der Durchsetzung, verlangen. Das ist aber nur dann verhältnismäßig, wenn nicht bereits im Vorhinein Anhaltspunkte für eine Erfolglosigkeit oder Unwirtschaftlichkeit einer derartigen Vorgangsweise vorliegen.

Eine Rechnungskorrektur durch den Leistungsempfänger – entsprechend der bisherigen bulgarischen Rechtslage – darf als Voraussetzung für eine Verminderung der Bemessungsgrundlage jedenfalls nicht verlangt werden. Geeignet seien nach Ansicht der GA hingegen „Mahnschreiben, eine Klage oder eine schriftliche Zahlungsverweigerung durch den Leistungsempfänger“.

Darüber hinaus hält GA Kokott die Eignung einer gesetzlichen Verpflichtung zur Inkenntnissetzung des Leistungsempfängers von der Verminderung der Bemessungsgrundlage durch den Leistungserbringer für zweifelhaft. Denn diese entfalte maximal eine Erinnerungs- oder Mahnfunktion, weil der Leistungsempfänger idR selbst weiß, dass er nicht bezahlt hat und deshalb auch keinen Anspruch auf Vorsteuerabzug hat. Insgesamt ist eine derartige Verpflichtung daher als unverhältnismäßig anzusehen und kann von MS im Rahmen von Art 90 MwStSystRL nicht vorgesehen werden.

Letztlich widmete sich GA Kokott noch der möglichen Verzinsung eines Erstattungsanspruchs aufgrund einer Verminderung der Bemessungsgrundlage. Diesbezüglich hält GA Kokott fest, dass nach der Rsp des EuGH grds eine Rückzahlung innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen muss und ansonsten ein Ausgleich durch die Zahlung von Verzugszinsen vorgesehen ist. Der relevante Zeitpunkt ist dabei die Erklärung iRe Steuerveranlagung des Stpfl über die Verminderung des Entgelts, weil ab diesem Zeitpunkt von einer endgültigen Nichtzahlung ausgegangen werden kann.

Conclusio

GA Kokott stellt im streitgegenständlichen Fall mehrere Verstöße der bulgarischen Rechtslage gegen das Unionsrecht fest. Art 90 Abs 2 MwStSystRL stellt jedenfalls keinen Freibrief zum Ausschluss der Berichtigung der Bemessungsgrundlage bei Nichtbezahlung dar, die Leistungsausführung als im bulgarischen Recht vorgesehener Zeitpunkt zum Beginn der Befristung ist unangemessen, eine Korrektur der Rechnung durch den Leistungsempfänger muss nicht zuerst erfolgen und darüber hinaus ist eine Benachrichtigung des Leistungsempfängers über die Rechnungskorrektur unverhältnismäßig. Zusätzlich wird im Schlussantrag geklärt, zu welchem Zeitpunkt eine Verminderung der Bemessungsgrundlage aufgrund von Nichtbezahlung zulässig ist.

Insgesamt kann an der Argumentation wenig beanstandet werden. Lediglich die Aussage in Rn 93, dass „er [gemeint ist der Leistungsempfänger] nicht bezahlt hat, weiß der Leistungsempfänger aber selbst“, muss mMn nicht zwingend der Fall sein. Zwar wird diese Aussage im Folgesatz wieder relativiert, nämlich dass der Mitteilung „daher allenfalls eine Erinnerungs- oder Mahnfunktion“ zukommen würde und folglich der Leistungsempfänger durchwegs an seine bestehende Zahlungspflicht erinnert werden könnte. In einigen Konstellationen könnte der Zahlung und damit Begleichung der MwSt daher weiterhin entsprochen werden. Warum damit eine Eignung immer noch zweifelhaft erscheinen und damit allgemein unverhältnismäßig sein soll (Rn 93 und 96), wird aber nicht näher erläutert. Offenbar hat das der EuGH selbst (6. 12. 2018, C-672/17, Travate, EU:C:2018:989, Rn 40 ff) bisher anders gesehen.

In Österreich wurde Art 90 MwStSystRL in § 16 UStG umgesetzt, wobei Abs 3 die Änderung der Bemessungsgrundlage aufgrund von Uneinbringlichkeit behandelt. Uneinbringlichkeit wird nach stRsp des VwGH angenommen, wenn die Forderung bei objektiver Betrachtung wertlos ist (vgl Scheiner/Kolacny/Caganek in Ecker/Epply/Rößler/Schwab (Hrsg), Kommentar zur Mehrwertsteuer - UStG 1994 [34. Lfg 2012] § 16 Abs 3 Rz 5). Der VwGH stellt dabei auf eine Einzelfallbetrachtung ab, wobei auch ertragsteuerliche Grundsätze berücksichtigt werden können (VwGH 26. 2. 2004, 99/15/0053). Die von GA Kokott vertretene Sichtweise zum frühestmöglichen Zeitpunkt der Geltendmachung der Verminderung der Bemessungsgrundlage wirkt ähnlich zum österreichischen ertragsteuerlichen Vorsichtsprinzip. Ein Widerspruch zum Unionsrecht hingegen lässt sich nicht beobachten. Eine Inkenntnissetzung des Schuldners kann in Österreich jedenfalls unterbleiben (Scheiner/Kolacny/Caganek in Ecker/Epply/Rößler/Schwab (Hrsg), Kommentar zur Mehrwertsteuer - UStG 1994 (34. Lfg 2012) § 16 Abs 3 Rz 12).

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 34808 vom 01.12.2023