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VfGH zum Rücktrittsrecht im Fernabsatz

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

B-VG: Art 7

FAGG: § 4, § 15, § 18

StGG: Art 2, Art 5, Art 6

1. ZPMRK: Art 1

Mit dem FAGG wird vollharmonisiertes Unionsrecht der RL 2011/83/EU über die Rechte der Verbraucher („Verbraucherrechte-RL“) umgesetzt. Da die (zulässigerweise) angefochtenen Bestimmungen des FAGG den Vorschriften der Verbraucherrechte-RL entsprechen, die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung keinen Spielraum haben und der VfGH auch keine Bedenken hinsichtlich der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen hegt, kommt für den VfGH eine verfassungsrechtliche Prüfung und gegebenenfalls Aufhebung dieser innerstaatlichen Vorschriften wegen Widerspruchs zu den geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (Art 5 StGG bzw Art 1 1. ZPMRK, Art 6 StGG sowie Art 7 B-VG bzw Art 2 StGG) nicht in Frage.

VfGH 12. 10. 2017, G 52/2016

Sachverhalt

Die antragstellende Gesellschaft übt das Gewerbe der Bestattung aus und erbringt Bestattungsdienstleistungen. Sie begehrte die Aufhebung diverser Bestimmungen des FAGG (Fern- und Auswärtsgeschäfte-Gesetz, BGBl I 2014/33) und regte die Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens beim EuGH an, insb hinsichtlich Vereinbarkeit der RL 2011/83/EU („Verbraucherrechte-RL“) mit den Art 16, 17 und 20 GRC.

Der VfGH wies den Antrag ab- bzw zurück (teilweise keine eindeutig zuordenbaren verfassungsrechtlichen Bedenken bzw keine unmittelbare und aktuelle Betroffenheit iSd Art 140 Abs 1 Z 1 lit c B-VG).

Entscheidung

Informationen vor Vertragsabschluss

Der zulässigerweise angefochtene § 4 Abs 1 FAGG, insb die Wortfolge„oder seine Vertragserklärung“, setzt Art 6 Abs 1 Verbraucherrechte-RL um („Bevor der Verbraucher durch einen Vertrag im Fernabsatz oder einen außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag oder ein entsprechendes Vertragsangebot gebunden ist, informiert der Unternehmer den Verbraucher in klarer und verständlicher Weise über Folgendes: […]“).

Art 6 Abs 1 Verbraucherrechte-RL macht damit den Abschluss von Verträgen im Fernabsatz oder außerhalb von Geschäftsräumen nicht unmöglich. Diese Bestimmung sichert nur, dass der Verbraucher in jedem Fall die erforderlichen Informationen erhält, bevor er durch den Vertrag oder ein entsprechendes Vertragsangebot gebunden ist. Angesichts der klaren Zielsetzung der Verbraucherrechte-RL, dass der Verbraucher eine informierte Entscheidung über den Abschluss eines Fernabsatzvertrages treffen können soll, ist es nach Ansicht des VfGH gerechtfertigt, dass der Vertrag solange nicht rechtswirksam zustande kommt bzw der Verbraucher nicht an sein Angebot gebunden ist, bis der Unternehmer dem Verbraucher die Informationen erteilt hat, die von der Verbraucherrechte-RL gefordert werden.

An der Gültigkeit der Informationen, die der Unternehmer dem Verbraucher gem Art 6 Abs 1 lit a bis t Verbraucherrechte-RL vor Vertragsabschluss geben muss, hegt der VfGH ebensowenig Zweifel wie daran, dass die Bestimmungen der Verbraucherrechte-RL auch bei sogenannten gemischten Verträgen anzuwenden sind, also bei Verträgen, die sowohl Elemente eines Dienstleistungsvertrags als auch eines Kaufvertrags enthalten. Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang bei Anwendung der Verbraucherrechte-RL stellen, sind im Auslegungsweg zu klären, führen aber nicht dazu, dass – der hier relevante – Art 6 Abs 1 der Verbraucherrechte-RL gegen primäres Unionsrecht verstieße.

§ 4 FAGG verstößt auch nicht gegen Art 18 B-VG, weil er einer Auslegung zugänglich ist. Soweit die antragstellende Gesellschaft meint, § 4 FAGG lasse nicht erkennen, welche Rechtsfolgen auf „gemischte Verträge“ anwendbar seien, hält ihr der VfGH entgegen, dass die Rechtsfolgen einer unterlassenen Information durch den Unternehmer nicht in § 4 FAGG geregelt sind, sondern in den §§ 11 ff FAGG, die allerdings nicht zulässigerweise angefochten wurden.

Eingeschränkte Haftung für Wertverlust

Zulässigerweise angefochten wurde hier weiters § 15 Abs 4 letzter Satz FAGG, worin es darum geht, ob und welchen Wertersatz der Verbraucher zu leisten hat, wenn er vom Unternehmer nicht gem Art 6 Abs 1 Buchst h der Verbraucherrechte-RL über sein Widerrufsrecht belehrt wurde.

Durch § 15 Abs 4 FAGG wird Art 14 Abs 2 Verbraucherrechte-RL in nationales Recht umgesetzt. Danach haftet der Verbraucher „für einen etwaigen Wertverlust der Waren nur, wenn dieser Wertverlust auf einen zur Prüfung der Beschaffenheit, Eigenschaften und Funktionsweise der Waren nicht notwendigen Umgang mit den Waren zurückzuführen ist. Der Verbraucher haftet in keinem Fall für den Wertverlust von Waren, wenn er vom Unternehmer nicht gem Art 6 Abs 1 Buchst h über sein Widerrufsrecht belehrt wurde.“

Auch an der Gültigkeit des Art 14 Abs 2 letzter Satz Verbraucherrechte-RL hegt der VfGH keine Zweifel: Seiner Ansicht nach widerspricht diese Regelung nicht den Kriterien der EuGH-Rsp für die Verhältnismäßigkeitsprüfung eines Unionsrechtsakts. Die Verbraucherrechte-RL verfolgt das Ziel eines umfassenden Verbraucherschutzes bei Fernabsatzverträgen und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen. Eine zentrale Stellung zur Verfolgung dieses Ziels nimmt dabei die Belehrung ein, die der Unternehmer gegenüber dem Verbraucher gem Art 6 Abs 1 Buchst h der Verbraucherrechte-RL vor Vertragsabschluss vornehmen muss.

Nach Auffassung des VfGH ist die in Art 14 Abs 2 letzter Satz der Verbraucherrechte-RL normierte Rechtsfolge für den Unternehmer bei mangelnder Belehrung über das Widerrufsrecht geeignet, das Ziel des umfassenden Verbraucherschutzes bei Fernabsatzverträgen zu erreichen, und geht auch nicht über das hinausgeht, was zur Verfolgung dieses Ziels erforderlich ist. Der VfGH hält das von der Verbraucherrechte-RL verfolgte Ziel eines umfassenden Verbraucherschutzes für derart gewichtig, dass es die Rechtsfolge bei fehlender Belehrung durch den Unternehmer über das Widerrufsrecht des Verbrauchers rechtfertigt.

Die zu Art 14 Abs 2 der Verbraucherrechte-RL dargelegten Erwägungen können nach Ansicht des VfGH sinngemäß auf Art 14 Abs 3 und Art 14 Abs 4 der Verbraucherrechte-RL übertragen werden und der VfGH hat sohin keine Zweifel an deren Gültigkeit.

Ausnahme nur für dringende Reparaturen

§ 18 Abs 2 FAGG beruht auf Art 16 lit h Verbraucherrechte-RL, wonach bei Fernabsatzverträgen und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen kein Widerrufsrecht nach den Art 9 bis 15 der Verbraucherrechte-RL besteht, wenn „es sich um Verträge handelt, bei denen der Verbraucher den Unternehmer ausdrücklich zu einem Besuch aufgefordert hat, um dringende Reparatur- oder Instandhaltungsarbeiten vorzunehmen; erbringt der Unternehmer bei einem solchen Besuch weitere Dienstleistungen die der Verbraucher nicht ausdrücklich verlangt hat, oder liefert er Waren, die bei der Instandhaltung oder Reparatur nicht unbedingt als Ersatzteile benötigt werden, so steht dem Verbraucher in Bezug auf diese zusätzlichen Dienstleistungen oder Waren ein Widerrufsrecht zu“.

Dass der Unionsgesetzgeber nur für dringende Reparaturarbeiten einen Ausnahmetatbestand betreffend das Rücktrittsrecht festgelegt hat (und nicht etwa für alle in Frage kommenden dringenden Dienstleistungen), hält der VfGH für nicht unsachlich.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 24559 vom 28.11.2017