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EU-MPfG: § 11 Abs 1 und 2
EU-Amtshilferichtlinie (RL 2011/16/EU): Art 8ab Abs 5
DAC 6 (RL 2018/822): Art 1 Z 2
GRC: Art 7, Art 47
Abstract
Der belgische Verfassungsgerichtshof hegt grundrechtliche Bedenken gegen die Vorschrift des Art 8ab Abs 5 EU-Amtshilferichtlinie (Art 1 Z 2 DAC 6), wonach ein der beruflichen Verschwiegenheitspflicht unterliegender Intermediär den/die anderen an der meldepflichtigen Gestaltung beteiligten Intermediär/e von der Befreiung und dem Übergang der Meldepflicht zu unterrichten hat. Konkret wird darin ein möglicher Verstoß gegen Art 7 (Achtung des Privatlebens) und Art 47 (Recht auf ein faires Verfahren) der GRC erblickt. Der belgische Verfassungsgerichtshof befasst nun den EuGH mit einem Vorabentscheidungsersuchen, in dem die Primärrechtskonformität der in Frage stehenden Bestimmung geklärt werden soll.
Vorabentscheidungsersuchen vom 21. 12. 2020, C-694/20
Ausgangsverfahren
Die DAC 6 (RL 2018/822 vom 25. 5. 2018) verpflichtete die Mitgliedstaaten bis spätestens zum 31. 12. 2019 nationale Regelungen zu erlassen, die einen automatischen Informationsaustausch für grenzüberschreitende Steuergestaltungen vorsehen. Im Zuge dessen müssen die Mitgliedstaaten Regelungen einführen, die primär Intermediäre (zB Steuerberater, Anwälte) dazu verpflichten, grenzüberschreitende Steuergestaltungen an die Finanzbehörden zu melden. Nach Art 8ab Abs 5 EU-Amtshilferichtlinie (Art 1 Z 2 DAC 6) können die Mitgliedstaaten eine Befreiung von dieser Meldepflicht für Intermediäre gewähren, wenn diese durch die Meldung gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen müssten. In einem solchen Fall müssen die Mitgliedstaaten den befreiten Intermediär jedoch verpflichten, die anderen an der meldepflichtigen Gestaltung beteiligten Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich „über ihre Meldepflichten (…) zu unterrichten“.
Der Odre von Vlaamse Balies (Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften) ua (Bf) beantragten nun beim belgischen Verfassungsgerichtshof (Grondwettelijk Hof) die vollständige, in eventu die teilweise Aussetzung und Nichtigerklärung des flämischen Dekrets vom 26. 6. 2020, mit dem die Bestimmungen der DAC 6 umgesetzt wurden. Nach Ansicht der Bf verstoße Art 14 des Dekrets vom 26. 6. 2020 sowohl gegen nationales Verfassungsrecht als auch gegen einschlägige Grundrechte der GRC. Nach der genannten Bestimmung hat ein Intermediär, der dem Berufsgeheimnis unterliegt, die anderen beteiligten Intermediäre schriftlich und unter Angabe von Gründen darüber zu unterrichten, dass er seiner Meldepflicht aufgrund der Verschwiegenheitspflicht nicht nachkommen kann. Dieses Erfordernis könne nicht erfüllt werden, ohne damit das Berufsgeheimnis zu verletzen.
Vorlagefrage und Erläuterungen
Das belgische Höchstgericht legte dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vor: Verstößt Art 8ab Abs 5 EU-Amtshilferichtlinie (Art 1 Z 2 DAC 6), der den befreiten Intermediär dazu verpflichtet, Informationen des Klienten, die er im Rahmen seiner Berufsausübung erlangt und einem anderen Intermediär mitzuteilen hat, gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens gem Art 7 GRC und das Recht auf ein faires Verfahren gem Art 47 GRC?
Folgende Überlegungen waren für die Entscheidung eines Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH beim belgischen Verfassungsgerichtshof ausschlaggebend: Das Berufsgeheimnis sei ein wesentlicher Bestandteil der GRC-Grundrechte, in concreto des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Art 7 GRC) und des Rechts auf ein faires Verfahren (Art 47 GRC). Nach der Rsp des (belgischen) Höchstgerichts sind Informationen, die Rechtsanwälte der zuständigen Behörde über ihre Klienten zu übermitteln haben, durch das Berufsgeheimnis geschützt, wenn die Informationen Tätigkeiten betreffen, die zu ihrer besonderen Aufgabe der Verteidigung oder Vertretung vor Gericht und/oder der Rechtberatung angehören. Der bloße Umstand, dass ein Rechtsanwalt beigezogen wird, fällt bereits nach Unionsrecht (Art 47 Abs 2 GRC) als auch nach belgischem Recht unter den Schutz des Berufsgeheimnisses. Dies gilt erst recht für die Identität des Klienten des Rechtsanwalts. Die Einhaltung der Vorschriften des flämischen Dekrets vom 26. 6. 2020 sind ohne Verletzung des Berufsgeheimnisses nicht möglich: Der befreite Intermediär kann einen anderen Intermediär über die Befreiung von der Meldepflicht nicht informieren, ohne dabei Daten über den relevanten Steuerpflichtigen preiszugeben. Ein Eingriff in das von den einschlägigen Grundrechten garantierte Berufsgeheimnis, wie ihn Art 14 des flämischen Dekrets vom 26. 6. 2020 vorsieht, ist aber nur zulässig, wenn der Eingriff durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und die Durchbrechung des Berufsgeheimnisses verhältnismäßig ist. Bevor die Zulässigkeit eines solchen Eingriffs durch das belgische Höchstgericht am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts geprüft werden kann, ist jedoch die Gültigkeit des Art 8ab Abs 5 EU-Amtshilferichtlinie (Art 1 Z 2 DAC 6) im Lichte der Art 7 und Art 47 GRC zu klären.
Conclusio
Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen hat große Relevanz für sämtliche Intermediäre iSd DAC 6, soweit sie nach nationalen Vorschriften einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen (in Österreich insb Rechtsanwälte, Steuerberater und Notare). Der EuGH wird nun zu entscheiden haben, ob die Unterrichtungspflicht des befreiten Intermediärs gem Art 8ab Abs 5 EU-Amtshilferichtlinie grundrechtskonform ist und daher Gültigkeit besitzt. Die Entscheidung des EuGH könnte Auswirkungen auf die in Österreich ähnlich geregelte Bestimmung des § 11 Abs 2 EU-MPfG haben. Im österr Schrifttum ist umstritten, ob die Informationspflicht des (befreiten) Intermediärs nach § 11 Abs 2 EU-MPfG die nationale Verschwiegenheitspflicht grundrechtskonform einschränkt (siehe dazu Finsterer/M. Lehner in Bergmann/Pinetz/Spies [2020], EU-MPfG § 11 Rz 58 ff).