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VwGH: Mittelpunkt der Lebensinteressen bei Ehegatten

Bearbeiter: Valentin Bendlinger

BAO: § 26

DBA-Schweiz: Art 4 Abs 2 lit a

DBA-Hongkong: Art 4 Abs 2 lit a

Abstract

Der Revisionswerber (Rw) – ein österreichischer Staatsbürger – war von 1999–2017 bei einem schweizerischen Konzern tätig und dort sozialversichert. Zugleich war er auch Geschäftsführer einer österreichischen Tochtergesellschaft desselben Konzerns. Bis Mitte des Jahres 2012 lebte er mit seiner Ehegattin und drei Kindern in der Schweiz. Erst 2012 zog die Ehegattin mit den Kindern nach Tirol. Der Rw blieb aus beruflichen Gründen in der Schweiz wohnhaft, hielt sich aber, sowohl aus familiären wie auch beruflichen Gründen, regelmäßig am Familienwohnsitz in Tirol auf. Dort nächtigte er nach eigenen Angaben – anlässlich der vor den Kindern geheim gehaltenen Trennung des Ehepaares – im Gästezimmer und sei am österreichischen Wohnsitz folglich nur ein „geduldeter Gast“ gewesen. Das Finanzamt betrachtete den Rw kraft abgeleiteten Wohnsitzes als unbeschränkt steuerpflichtig und zudem als abkommensrechtlich in Österreich ansässig und schrieb für die Jahre 2012–2017 Einkommensteuer vor. Nach erfolgloser Beschwerde beim BFG wurde Revision erhoben.

VwGH 21. 2. 2023, Ra 2020/15/0089

Sachverhalt

Der Revisionswerber (Rw) ist österreichischer Staatsbürger und erhielt im Jahr 1999 eine Anstellung bei einer schweizerischen AG mit Sitz und Ort der Geschäftsleitung im Kanton Zürich, bei der er bis Oktober 2017 tätig und auch in der Schweiz sozialversichert war. Darüber hinaus war er im Auftrag seiner schweizerischen Arbeitsgeberin auch Geschäftsführer einer mit dieser konzernmäßig verbundenen österreichischen GmbH. Von November 2017 bis März 2018 war der Rw für eine Schwestergesellschaft seiner schweizerischen Arbeitgeberin in Hongkong tätig und dort sozialversichert. Seit April 2018 ist der Rw bei einer Gesellschaft in Tirol nichtselbstständig beschäftigt und in Österreich sozialversichert. Im Jahr 1999 heiratete er seine Ehefrau. Zwischen 2001 und 2006 wurden drei Kinder geboren und zunächst in der Schweiz großgezogen. Im Juni 2012 zog die Ehefrau mit den drei Kindern in eine – im Hälfteeigentum des Revisionswerbers und seiner Ehefrau stehenden – Eigentumswohnung in Tirol. Der Rw verblieb in der Schweiz und wohnte dort bis zu seiner Übersiedelung nach Hongkong Anfang November 2017 in einer Mietwohnung. In der Schweiz hatte der Rw weder enge Freundschaften noch pflegte er häufigen Kontakt zu seiner ebenfalls in der Schweiz wohnhaften Schwester. Nach seiner Rückkehr aus Hongkong Ende März 2018 mietete er eine Wohnung in Innsbruck, wo er seit April 2018 auch mit Hauptwohnsitz gemeldet ist. Im Zeitraum 2012–2017 verbrachte der Rw seine arbeitsfreien Tage (Wochenenden, Feiertage und Urlaubstage) zum weitaus überwiegenden Teil im Wohnort der Familie in Tirol. Auch anlässlich seiner beruflichen Aufenthalte nächtigte er bei zwei- oder mehrtägigen Aufenthalten oder verlängerten Wochenenden im Gästezimmer der von seiner Ehefrau und seinen Kindern bewohnten Wohnung. Die häufigen regelmäßigen Besuche der Familie resultierten aus dem Umstand, dass die Trennung des Ehepaares vor den Kindern geheim gehalten wurde. Der Rw gab an, dass er die persönliche Beziehung zu seinen Kindern aufrechterhalten wollte. Auch seine Erholungsurlaube verbrachte der Rw sohin mit seiner Familie gemeinsam in Österreich oder im Ausland. Das Finanzamt schrieb dem Rw mit mehreren Bescheiden Einkommensteuer für die Jahre 2012–2017 vor. Gegen die Bescheide erhob der spätere Rw zunächst Beschwerde: Er habe seit 2012 von seiner Frau und seinen Kindern getrennt gelebt. Erst im April 2018 sei er nach Österreich gezogen und habe im Streitzeitraum folglich seinen Wohnsitz wie auch seinen Mittelpunkt der Lebensinteressen außerhalb Österreichs gehabt. Nach negativen Beschwerdevorentscheidungen landete die Rs vor dem BFG. Das BFG wies die Beschwerde als unbegründet ab: Der Familienwohnsitz in Tirol begründete für den Rw in den Streitjahren unstrittig einen Wohnsitz nach § 26 BAO. Das Argument des Revisionswerbers, er sei in den Streitjahren aufgrund der materiellen Trennung des Ehepaares am Familienwohnsitz nur geduldeter Gast gewesen, ließ das BFG nicht gelten. Als Miteigentümer sei ihm rechtliche wie auch tatsächliche Verfügungsmacht über die Wohnung zugekommen. Hinsichtlich der abkommensrechtlichen Ansässigkeit ging das BFG davon aus, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen seit Juli 2012 in Österreich gelegen habe, zumal die für ihn wesentlichen und stärksten persönlichen Beziehungen in Österreich gelegen sind. Den in der Schweiz und Hongkong gelegenen wirtschaftlichen Interessen komme demgegenüber geringere Bedeutung zu. Gegen das Erkenntnis des BFG wurde außerordentliche Revision erhoben. In seinem Revisionsvorbringen bringt der Rw vor, der Mittelpunkt der Lebensinteressen habe zwischen 2012 und 2017 nach Art 4 Abs 2 lit a DBA-Schweiz in der Schweiz gelegen.

Entscheidung des VwGH

Nach Art 4 Abs 2 lit a DBA-Schweiz gilt eine Person, die in beiden Vertragsstaaten über eine ständige Wohnstätte verfügt, als in dem Vertragsstaat ansässig, zu dem sie die engeren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen hat (Mittelpunkt der Lebensinteressen). Der VwGH betont, dass die Beurteilung der Frage, in welchem Staat ein Steuerpflichtiger den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen hat, im Rahmen einer einzelfallbezogenen Gesamtabwägung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zu ermitteln ist (VwGH 21. 4. 2020, Ro 2017/13/0014; 17. 10. 2017, Ra 2016/15/0008; 15. 9. 2016, Ra 2016/15/0057). Wie der VwGH ausdrücklich hervorhebt, ist eine solche einzelfallbezogene Beurteilung im Allgemeinen – wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rsp entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde – nicht revisibel (vgl neuerlich VwGH 21. 4. 2020, Ro 2017/13/0014).

Der VwGH stellt fest, dass sich das BFG mit den Besonderheiten der Situation des von seiner Ehefrau und den Kindern getrennt lebenden Revisionswerbers und seinen Wohnsitzen in der Schweiz, Hongkong und Österreich, sowie der Gestaltung seines Ehe- und Familienlebens eingehend auseinandergesetzt hat. Es hat im Rahmen der zusammenfassenden Wertung lediglich die festgestellten Umstände anders gewichtet, als dies die Revision vertritt. Zudem entspricht es der stRsp des VwGH, dass den wirtschaftlichen Beziehungen im Rahmen der Gesamtbetrachtung idR eine geringere Bedeutung zukommt als den persönlichen Beziehungen (siehe auch VwGH 17. 10. 2017, Ra 2016/15/0008; 15. 9. 2016, Ra 2016/15/0057; 23. 1. 2020, Ra 2019/15/0160). Soweit die Revision unter diesem Gesichtspunkt vorbringt, der Rw habe die ausschließliche Schlüsselgewalt seiner Ehefrau für die Wohnung in Tirol und seine bloße Duldung als Gast akzeptiert, entfernt sich die Revision – so der VwGH – vom festgestellten Sachverhalt. Die Revision vermochte sohin nicht aufzuzeigen, dass dem BFG eine die Zulässigkeit der Revision begründende, grobe Fehlbeurteilung unterlaufen wäre, womit aber auch keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliegt. Folglich wurde die Revision als unzulässig zurückgewiesen.

Conclusio

Das Revisionsbegehren war zum Scheitern verurteilt. Es entspricht ständiger österreichischer Rsp, dass für Zwecke der Feststellung des Mittelpunkts der Lebensinteressen den persönlichen Beziehungen ein stärkeres Gewicht zukommt als den wirtschaftlichen Interessen (siehe auch VwGH 17. 10. 2017, Ra 2016/15/0008; 15. 9. 2016, Ra 2016/15/0057; 23. 1. 2020, Ra 2019/15/0160). Zwar brachte der Rw vor, dass er sich von seiner Ehegattin längst getrennt hatte, jedoch vermochte er keine über die beruflichen Beziehungen hinausgehenden persönlichen Beziehungen zur Schweiz nachzuweisen. Aus dem Sachverhalt ging eindeutig hervor, dass der Rw seinen „Lebenssinn“ an seinem Familienwohnsitz erkannte und in Österreich verwirklichen wollte. Dazu kam, dass es durch seine Geschäftsführungsfunktion in Österreich neben den eindeutig starken persönlichen Beziehungen auch wirtschaftliche Interessen in Österreich gegeben hat. Letztere waren zwar in der Schweiz stärker ausgeprägt, aber selbst wenn man die persönlichen und wirtschaftlichen Interessen – entgegen ständiger österreichischer Rsp – als gleichgewichtet sähe, wäre kraft fehlender persönlicher Beziehung zur Schweiz in einer Gesamtbetrachtung eine stärke Beziehung zu Österreich vorgelegen. Nachdem das BFG sämtliche Sachverhaltselemente und Argumente des Revisionswerbers abgewogen hat, hat der VwGH die Revision aus überzeugenden Gründen zurückgewiesen.

Der Beschluss des VwGH bestätigt die stRsp und zeigt einmal mehr, dass die Ansässigkeit von Ehegatten nur in Ausnahmefällen auseinanderfallen kann: In der Regel befindet sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen am Wohnsitz des Ehegatten, alleine schon deshalb, weil – zumindest nach österreichischer Rsp – die persönlichen Beziehungen stärker zu gewichten sind als die wirtschaftlichen Beziehungen. Ein Auseinanderfallen der Ansässigkeit von Ehegatten ist also nur dann denkbar, wenn der im Ausland tätige Ehegatte neben seinen wirtschaftlichen Beziehungen auch persönliche Beziehung am Ort seiner wirtschaftlichen Tätigkeit pflegt und die Beziehungen zum Ort der wirtschaftlichen Tätigkeit – trotz des abweichenden Wohnsitzes des Ehegatten – in einer Gesamtbetrachtung stärker sind. Das wäre denkbar gewesen, wenn der Rw enge persönliche Kontakte in der Schweiz nachweisen hätte können und sich tatsächlich nur sporadisch in Österreich aufgehalten hätte. Wie erst kürzlich ergangene Rsp des BFG bestätigt hat, gibt es in der Tat Fälle, in denen die Ansässigkeit von Ehegatten auseinanderfallen kann (BFG 12. 12. 2022, RV/1100450/2020, dazu V. Bendlinger, LN Rechtsnews 33933 vom 19. 4. 2023).

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 34109 vom 05.06.2023