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VwGH zum „Wissen-Müssen“ um einen Mehrwertsteuerbetrug in der Lieferkette

Bearbeiter: Kilian Posch

UStG: Art 6, Art 7

Abstract

Im vorliegenden Fall hatte die Mitbeteiligte Scheingeschäfte über Fahrzeuge mit einem Unternehmer in den Niederlanden abgeschlossen. Die tatsächlichen Abnehmer waren jedoch zwei andere niederländische Unternehmen, die, wie sich später herausstellte, mit den Umsätzen einen Umsatzsteuerbetrug begingen. Das BFG stellte fest, dass die Mitbeteiligte durch das Scheingeschäft nicht vom Umsatzsteuerbetrug wissen hätte müssen und ließ daher den VSt-Abzug zu. Der VwGH sprach im vorliegenden Fall jedoch aus, dass das „Wissen-Müssen“ in Hinblick auf die tatsächlich durchgeführten Umsätze und nicht nur in Bezug auf das Scheingeschäft überprüft werden muss, weshalb die Entscheidung aufzuheben war.

VwGH 24. 4. 2024, Ra 2022/15/0042

Sachverhalt

Die an der Revision Mitbeteiligte ist eine GmbH, die in den Jahren 2002 und 2003 Fahrzeuge in die Niederlande an das Unternehmen „Z-BV“ verkaufte, was sie auch in den Zusammenfassenden Meldungen unter Angabe der UID-Nummer der Z-BV dokumentierte. Die tatsächlichen Geschäftspartner der Mitbeteiligten waren jedoch die X-BV und Y-BV, die mit der Z-BV einen „Missing-Trader“-Umsatzsteuerbetrug begingen. Laut Sachverhalt kannte die Mitbeteiligte zwar die wahren Geschäftspartner, wusste jedoch vom Umsatzsteuerbetrug nichts und akzeptierte die Voraussetzung der X-BV und Y-BV, dass die Rechnungstellung auf die Z-BV erfolgen müsste. Dadurch sollte nach Aussagen der X-BV und Y-BV der Generalimporteur übergangen werden. Da nach Ansicht des FA aber die erforderlichen Nachweise zwischen der X-BV bzw Y-BV und der Mitbeteiligten für die Steuerbefreiung der ig Lieferungen nicht vorlagen, setzte es für die Lieferungen Umsatzsteuer fest. In der darauffolgenden Beschwerde (zunächst Berufung) erkannte das BFG, dass mit der Lieferung der Fahrzeuge in die Niederlande und dem Feststehen der tatsächlichen Empfänger der Ware die materiellen Anforderungen an die Steuerfreiheit erfüllt seien und die Mitbeteiligte auch nichts vom Mehrwertsteuerbetrug hätte wissen müssen. Die Lieferung über die Z-BV geschah in Absprache mit den tatsächlichen Abnehmern und steht der Gutgläubigkeit der Mitbeteiligten nicht entgegen. Schlussendlich ist es keine Verpflichtung der Mitbeteiligten, den Transport der Fahrzeuge zu überwachen, um feststellen zu können, an welchen Abnehmer die Ware tatsächlich geliefert würde. Gegen dieses Erkenntnis des BFG richtet sich die außerordentliche Revision des Finanzamts.

Entscheidung des VwGH

Der VwGH stellt zunächst fest, dass auch im Umsatzsteuerrecht nicht das Scheingeschäft, sondern das dadurch verdeckte tatsächliche Geschäft maßgeblich ist (VwGH 26. 11. 2015, Ro 2014/15/0044). Aus Art 7 Abs 3 UStG ergibt sich weiters, dass die Voraussetzungen für die steuerfreie ig Lieferung in Abs 1 und 2 leg cit vom Unternehmer buchmäßig nachgewiesen werden müssen, wobei der Bundesminister für Finanzen genauere Vorschriften in einer Verordnung bestimmen kann. Durch die bewusste Angabe eines falschen Abnehmers hat die Mitbeteiligte gegen die Vorschriften in Art 7 Abs 3 UStG und die Verordnung des Bundesministers für Finanzen über den Nachweis der Beförderung oder Versendung und den Buchnachweis bei innergemeinschaftlichen Lieferungen (BGBl 401/1996) verstoßen. Dennoch ist nach Rechtsprechung des EuGH der Neutralitätsgrundsatz zu beachten, wonach die Mehrwertsteuerbefreiung bei Erfüllung der materiellen Voraussetzungen zu gewähren ist, auch wenn formelle Vorschriften nicht eingehalten wurden (vgl EuGH 9. 2. 2017, C-21/16, Euro Tyre). Ein formeller Verstoß kann jedoch dann zur Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung führen, wenn dadurch das Vorliegen der materiellen Anforderungen nicht mehr überprüft werden kann (vgl EuGH 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition mwN), oder wenn der Steuerpflichtige sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat. Dabei reicht es auch, dass der Steuerpflichtige gewusst hat oder hätte wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war und er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um dies zu verhindern (vgl EuGH 29. 2. 2024, C-676/22, B2 Energy s.r.o., Rz 27 f mwN). Das BFG hatte in seiner Entscheidung ermittelt, dass die Mitbeteiligte nicht in Hinblick auf das Scheingeschäft an einem Umsatzsteuerbetrug beteiligt war, dabei jedoch nicht beachtet, dass für die Beurteilung das tatsächlich erfolgte Geschäft maßgeblich ist. Es ist etwa nicht ersichtlich, warum zum Übergehen des Generalimporteurs das Finanzamt durch die falsche Rechnungstellung getäuscht wurde. Zwar ist der VwGH nicht zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Einzelfall berufen, doch hat das BFG mit dem Fokus auf die vorgetäuschten Geschäfte die Rechtslage verkannt, weshalb das angefochtene Erkenntnis vom VwGH aufgehoben wurde.

Conclusio

Die Frage, unter welchen Umständen die Steuerbefreiung und der Vorsteuerabzug wegen Betrugs im Rahmen der Mehrwertsteuerrichtlinie versagt werden können, sorgt nach wie vor für regelmäßige Diskussionen. Auch wenn der Steuerpflichtige nicht aktiv vom Mehrwertsteuerbetrug profitiert, kann er durch Wissen oder Wissen-Müssen über den Betrug den Vorsteuerabzug verlieren. Während das Wissen für sich genommen zur Versagung der Steuerbefreiung ausreicht, führt das Wissen-Müssen nur dann zu dieser Rechtsfolge, wenn der Steuerpflichtige gewisse Maßnahmen unterlässt (vgl Lamensch, Right to deduct, in Kofler/Lang/Pistone/Rust/Schuch/Spies/Staringer/Szudoczky/Kuniga [Hrsg], CJEU – Recent Developments in Value Added Tax 2023, in Druck). Der EuGH hat etwa mehrmals ausgesprochen, dass ein Steuerpflichtiger dazu verpflichtet sein kann, über seinen Geschäftspartner Auskünfte einzuholen und Nachforschungen zu seiner Zuverlässigkeit anzustellen, wenn Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder eine Steuerhinterziehung sprechen (vgl EuGH 1. 12. 2022, C-512/21, Aquila Part Prod Rz 49 mwN). Die Aufforderung zu einem Scheingeschäft ist wohl als solches Indiz zu sehen, doch darf nicht vergessen werden, dass die Finanzverwaltung dem Steuerpflichtigen keine komplexe Nachforschungen aufbürden und die eigene Untersuchungspflicht de facto auslagern darf (zB EuGH 19. 10. 2017, C 101/16, Paper Consult Rz 51). Auch ist ein etwaiger Regelverstoß außerhalb des Umsatzsteuerrechts nicht automatisch als Umstand zu werten, der zu einer Versagung der Steuerbefreiung führt (Lamensch in Kofler et al, in Druck). Für weitere Unklarheit sorgt der EuGH in seinen jüngsten Entscheidungen, in denen er nicht mehr ausschließlich von „hätte wissen müssen“, sondern auch von „hätte wissen können“ spricht (EuGH C-512/21, Aquila Part Prod und EuGH 24. 11. 2022, C-596/21, Finanzamt M). Aus dieser sprachlichen Inkonsistenz allein wird aber noch keine Anpassung des Fahrlässigkeits-Maßstabs in der Rechtsprechung abzuleiten sein (siehe auch Hummel, zitiert in Posch, ‘Court of Justice of the European Union: Recent VAT Case Law 2024’: Conference in Vienna: In Which Direction Does the CJEU Go? EC Tax Review 2024, 136 [137]). Zusammenfassend müssen die für den Steuerpflichtigen zumutbaren Maßnahmen in einer Gesamtbetrachtung des Einzelfalls gewürdigt werden. Die Rechtsprechung gibt dabei nur einige Anhaltspunkte vor. Der Fehler des BFG war im vorliegenden Fall, dass der durch die EuGH-Rechtsprechung vorgegebene Maßstab nicht auf das tatsächliche Geschäft bezogen war. Ob die Mitbeteiligte den Sorgfaltsmaßstab verletzt hat, lässt sich daraus aber noch nicht ableiten.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35848 vom 11.09.2024