Steuerrecht Aktuell

Die "Schließung der mündlichen Verhandlung" nach § 270 BAO idF AbgÄG 2022 - wie umfassend ist das Neuerungsverbot?

MMMag. Dr. Philipp Loser, BA BEd / Univ.-Prof. MMag. Dr. Christoph Urtz

Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, welche Konsequenzen die "Schließung" der mündlichen Verhandlung in der Neufassung des § 270 Abs 1 BAO durch das AbgÄG 2022 hat und in welchem Zusammenhang diese "Schließung" mit der ebenfalls neu eingeführten Verfahrensförderungspflicht in § 270 Abs 2 BAO steht. Im Fokus steht daher die Frage, ob ein nach "Schließung" gestellter Beweisantrag unter ein absolutes Neuerungsverbot fällt oder ob danach gestellte Beweisanträge dennoch zu berücksichtigen bzw unter welchen Voraussetzungen diese zu berücksichtigen sind. Im Rahmen dieses Beitrages wird auch untersucht, inwieweit die Bestimmungen über die "Schließung" der mündlichen Verhandlung in § 193 ZPO und in § 39 AVG für die Auslegung des § 270 Abs 1 BAO herangezogen werden können.

I. Die durch das AbgÄG 2022 neu eingeführten Bestimmungen zur Verfahrensförderungspflicht und zur "Schließung" der mündlichen Verhandlung (mit Neuerungsverbot)

A. Die Neuregelungen durch das AbgÄG 2022 in § 183 Abs 3 BAO und § 270 BAO - Wortlaut und Gesetzesmaterialien

Durch das AbgÄG 2022 1 wurde in § 183 Abs 3 BAO (und § 270 Abs 2 BAO; siehe sogleich) unter dem Titel der "Beweisaufnahme" eine "Verfahrensförderungspflicht" im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten eingeführt, in systematischem Zusammenhang zur Regelung der Beweisanträge und unmittelbar nach der Regelung, wonach Beweisanträge wegen offenbarer Verschleppungsabsicht abzulehnen sind. Die Neuregelung des § 183 Abs 3 BAO lautet wie folgt: Von der Aufnahme beantragter Beweise ist abzusehen "[...] im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht überdies dann, wenn das Beweisanbot der Parteien der Verfahrensförderungspflicht (§ 270 Abs. 2) widerspricht. Von der Aufnahme eines im Vorlageantrag gestellten Beweisantrages darf das Verwaltungsgericht nicht mit der Begründung absehen, dass der Beweisantrag der Verfahrensförderungspflicht (§ 270 Abs. 2) widerspricht."

In § 270 BAO, dessen zentrales Thema das Neuerungsverbot ist (siehe dazu noch unten), wurde unter dem Titel "Kein Neuerungsverbot" die bisher nach der BAO im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten geltende Regelung, wonach grundsätzlich kein Neuerungsverbot gilt, wie folgt abgeändert: Die bisherige - nun in Abs 1 befindliche - Regelung, wonach die Abgabenbehörde "im Laufe" des Beschwerdeverfahrens (siehe zu diesem Begriff und seiner Bedeutung noch unten) auf neue Tatsachen, Beweise und Anträge Bedacht zu nehmen hat, "auch wenn dadurch das Beschwerdebegehren geändert oder ergänzt wird ",2 wurde folgendermaßen eingeschränkt: "Dies gilt nach Maßgabe des Abs. 2 sinngemäß für dem Verwaltungsgericht durch eine Partei oder sonst zur Kenntnis gelangte Umstände; im Falle einer durchgeführten mündlichen Verhandlung jedoch nur bis zu deren Schließung (§ 277 Abs. 4)." Nach diesem neuen Abs 1 wurde folgender Abs 2 angefügt: "(2) Jede Partei hat ihr Vorbringen so rechtzeitig und vollständig zu erstatten, dass das Verfahren möglichst rasch durchgeführt werden kann (Verfahrensförderungspflicht)."

Die Gesetzesmaterialien führen zu § 183 Abs 3 und § 270 BAO idF AbgÄG 2022 Folgendes aus:3

"Die zeitliche Begrenzung des Berücksichtigungsgebots neuer Tatsachen, Beweise und Anträge im Falle einer durchgeführten mündlichen Verhandlung mit deren ‚Schließung‘ iSd § 277 Abs. 4 BAO und somit auch mit der Verkündung des Beschlusses, dass die Entscheidung der schriftlichen Ausfertigung vorbehalten bleibt, soll einen Beitrag gegen verfahrensverschleppende Maßnahmen darstellen. Wird die mündliche Verhandlung vertagt (§ 277 Abs. 4 erster Fall BAO), so wird sie nicht geschlossen, weshalb diesfalls auch zukünftig kein Neuerungsverbot greift. Die ausdrückliche Normierung einer für das verwaltungsgerichtliche Verfahren geltende[n] Verfahrensförderungspflicht in § 270 Abs. 2 BAO soll zusätzlich und insbesondere in allen Verfahren, in denen keine mündliche Verhandlung durchgeführt wird, verfahrensbeschleunigend wirken. Dieselbe Regelung findet sich derzeit bereits in § 39 Abs. 2a AVG.


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Damit einhergehend soll ein nur für das verwaltungsgerichtliche Verfahren geltender spezieller Ablehnungstatbestand für solche Beweisanbote normiert werden, die der in § 270 Abs. 2 BAO normierten Verfahrensförderungspflicht widersprechen. Während der auch für das abgabenbehördliche Verfahren geltende Ablehnungstatbestand der Verschleppungsabsicht eine mitunter schwierige Feststellung der subjektiven Tatseite erfordert und die mutmaßliche Verschleppungsabsicht je nach Einzelfall in einem Spannungsverhältnis zur amtswegigen Ermittlungspflicht nach § 115 Abs. 4 BAO steht (zB VwGH 9.10.2016, Ra 2016/15/0058), liegt ein Verstoß gegen die Verfahrensförderungspflicht iSd § 270 Abs. 2 BAO (bereits) dann vor, wenn aus objektiver Sicht keine sachlichen Gründe dafür vorliegen, dass im Verfahren eingebrachte Beweisanträge nicht schon bereits in einem früheren Verfahrensstadium, etwa bereits im abgabenbehördlichen Verfahren oder spätestens nach Bekanntgabe des Vorlageberichts (§ 265 Abs. 3 BAO) eingebracht hätten werden können (zB VwGH 24.1.1996, 94/13/0152).

Ein im Vorlageantrag gestellter Beweisantrag gilt jedenfalls als rechtzeitig."

B. Die neue Verfahrensförderungspflicht des § 270 Abs 2 BAO und ihr Zusammenhang zur "Schließung" der mündlichen Verhandlung in § 270 Abs 1 letzter Satz BAO

1. Die Rechtsfolge der "Schließung" der mündlichen Verhandlung gem § 270 Abs 1 letzter Satz BAO als eigenständiger Beitrag zur Verfahrensförderung

Wie oben gesagt wurde durch das AbgÄG 2022 in § 270 Abs 2 BAO eine Verfahrensförderungspflicht für das verwaltungsgerichtliche Verfahren neu eingeführt. Auf diese Pflicht wurde auch durch einen in § 183 Abs 3 BAO neu eingefügten Satz, im Zusammenhang mit der bisher dort geregelten "Verschleppungsabsicht", hingewiesen. Verwaltungsgerichte, die die BAO anzuwenden haben und für die damit die genannte Verfahrensförderungspflicht gilt, sind erstens das Bundesfinanzgericht (BFG) für Angelegenheiten in öffentlichen Abgaben, soweit diese Angelegenheiten unmittelbar von den Abgaben- oder Finanzstrafbehörden des Bundes besorgt werden (dies sind ausschließliche oder gemeinschaftliche Bundesabgaben oder behördlich verhängte Strafen nach dem FinStrG), und zweitens das jeweilige Landesverwaltungsgericht in Angelegenheiten der Landes- oder Gemeindeabgaben.4

Neben der Einführung der Verfahrensförderungspflicht wurde im Übrigen auch klargestellt, dass vom Anwendungsbereich des Neuerungsverbots nicht nur neue Tatsachen, Beweise und Anträge ausgenommen sind, die "der Abgabenbehörde" im Laufe des Beschwerdeverfahrens zur Kenntnis gelangen, sondern auch Umstände, die "dem Verwaltungsgericht" zur Kenntnis gelangen; dies allerdings eben nur "nach Maßgabe" der neu eingeführten Verfahrensförderungspflicht in Abs 2 des § 270 BAO.

Ein wichtiger - wenn nicht sogar der wichtigste - Beitrag gegen Verfahrensverschleppung (und damit zur Verfahrensförderung) ist die grundsätzliche Konsequenz, dass ein Neuerungsverbot schon zur Anwendung kommt, sofern Umstände (Tatsachen, vorgelegte Beweismittel und Beweisanträge) dem Verwaltungsgericht erst nach "Schließung" der mündlichen Verhandlung gem § 270 Abs 1 letzter Satz BAO idF AbgÄG 2022 zur Kenntnis gelangen.

Diese Rechtsfolge der "Schließung" einer mündlichen Verhandlung bildet, wie einleitend gesagt, den Schwerpunkt dieses Beitrages.

Die Neuregelung wirft die Frage auf, inwieweit die genannte Rechtsfolge der "Schließung" einer mündlichen Verhandlung gem § 270 Abs 1 letzter Satz BAO als (unmittelbarer) Ausfluss der in § 270 Abs 2 BAO neu eingeführten Verfahrensförderungspflicht im verwaltungsgerichtlichen Verfahren anzusehen ist oder als zusätzlicher Beitrag zur Verfahrensförderung:

Die zitierten Gesetzesmaterialien weisen uE eindeutig in Richtung eines zusätzlichen (von der allgemeinen Verfahrensförderungspflicht gem § 270 Abs 2 BAO unabhängigen) Beitrages zur Verfahrensförderung, da die Regelung über die Rechtsfolgen der Schließung "[...] einen Beitrag gegen verfahrensverschleppende Maßnahmen darstellen" soll.

Dazu kommt, dass "die ausdrückliche Normierung einer für das verwaltungsgerichtliche Verfahren geltende[n] Verfahrensförderungspflicht in § 270 Abs. 2 BAO [...] zusätzlich und insbesondere in allen Verfahren, in denen keine mündliche Verhandlung durchgeführt wird, verfahrensbeschleunigend wirken" soll.5 Gerade die Aussage, dass die Verfahrensförderungspflicht zusätzlich und dann gilt, wenn keine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, spricht tendenziell dafür, dass die Verfahrensförderungspflicht des § 270 Abs 2 BAO und die in § 270 Abs 1 letzter Satz BAO geregelten Konsequenzen einer "Schließung" der mündlichen Verhandlung zwei dogmatische getrennte Maßnahmen sind.6 Der Hintergrund dieser "Schließung" dürfte insb der Bekämpfung der Verfahrensverschleppung dienen (dazu noch unten).


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2. Eckpunkte der Verfahrensförderungspflicht des § 270 Abs 2 BAO

Zur Verfahrensförderungspflicht des § 270 Abs 2 BAO sollen hier nur einige wenige Eckpunkte abgesteckt werden:

Erstens betonen die oben zitierten Gesetzesmaterialien wie gesagt, dass die Verfahrensförderungspflicht iSd § 270 Abs 2 BAO idF AbgÄG 2022 gerade dann gilt, wenn es keine mündliche Verhandlung gibt. Dies macht deswegen Sinn, da die mündliche Verhandlung im Interesse einer Verfahrenskonzentration liegt: Gerade in der mündlichen Verhandlung sollen (auch) Beweise aufgenommen werden und es soll Parteiengehör gewährt werden.7 Fehlt es an einer mündlichen Verhandlung, macht die Anordnung einer Verfahrensförderungspflicht den Wegfall des Konzentrationseffekts einer mündlichen Verhandlung sozusagen wett. Dies steht in Einklang mit dem Hinweis in den Materialien, wonach Beweisanträge spätestens nach Bekanntgabe des Vorlageberichts (§ 265 Abs 3 BAO) eingebracht werden sollen; dieser Zeitpunkt liegt zwangsläufig vor der Durchführung einer allfälligen mündlichen Verhandlung und ist damit von dieser unabhängig.

Die Gesetzesmaterialien betonen weiters, dass "ein Verstoß gegen die Verfahrensförderungspflicht iSd § 270 Abs. 2 BAO (bereits) dann vor[liegt], wenn aus objektiver Sicht keine sachlichen Gründe dafür vorliegen, dass im Verfahren eingebrachte Beweisanträge nicht schon bereits in einem früheren Verfahrensstadium, etwa bereits im abgabenbehördlichen Verfahren" gestellt wurden. Somit besteht auf den ersten Blick bereits in dem - dem Beschwerdeverfahren vorgelagerten - Verfahren vor der Abgabenbehörde (dies ist in der Praxis meist das Verfahren vor dem Finanzamt Österreich) eine Verfahrensförderungspflicht und damit die Verpflichtung, Beweisanträge zu stellen, widrigenfalls diese wegen Verstoßes gegen § 270 Abs 2 BAO abgelehnt werden können.

Diese Aussage in den Gesetzesmaterialien steht allerdings - was auch in den Materialien selbst implizit eingeräumt wird - in einem Spannungsverhältnis zur neu eingeführten gesetzlichen Regelung in § 183 Abs 3 vorletzter Satz BAO idF AbgÄG 2022, wonach das Verwaltungsgericht "von der Aufnahme eines im Vorlageantrag gestellten Beweisantrages [...] nicht mit der Begründung absehen [darf], dass der Beweisantrag der Verfahrensförderungspflicht (§ 270 Abs. 2) widerspricht". Mit anderen Worten: Ein im Vorlageantrag gestellter Beweisantrag gilt "jedenfalls" als rechtzeitig.8 Dies macht systematisch deswegen Sinn, da das Verwaltungsgericht letztlich erst mit Stellung des Vorlageantrages (§ 264 BAO) zur Entscheidung zuständig wird und auch seine Entscheidungspflicht erst mit diesem Zeitpunkt beginnt.9

Damit dürfte aber letztlich die angeordnete Verfahrensförderungspflicht im Verfahren vor der Abgabenbehörde zahnlos sein, zumindest in dem Fall, in dem es auch zu einem Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht kommt: Beweisanträge im Vorlageantrag sind "jedenfalls" rechtzeitig; ein Beweisantrag, der vom Beschwerdeführer nach Vorlage der Beschwerde und der Akten durch die Abgabenbehörde an das Verwaltungsgericht (inkl Vorlagebericht der Abgabenbehörde gem § 265 Abs 3 BAO) erfolgt, ist nach Aussage der Gesetzesmaterialien offenbar ebenfalls rechtzeitig (arg "spätestens nach Bekanntgabe des Vorlageberichts"). Dies macht auch deswegen Sinn, da es praktisch nicht selten vorkommen wird, dass der Beschwerdeführer gerade in Reaktion auf den Vorlagebericht (§ 265 Abs 3 BAO) der Abgabenbehörde, in dem auch die von der Abgabenbehörde angenommenen Tatsachen und herangezogenen Beweismittel genannt werden, einen (weiteren) Beweisantrag stellt.

C. Die "Schließung" der mündlichen Verhandlung und ihre Konsequenzen

1. Die alte Rechtslage vor dem AbgÄG 2022 und die daraus resultierenden Probleme

a. Taugliche Beweisanträge

Eingangs soll kurz die Problematik umrissen werden, unter welchen formellen und materiellen Voraussetzungen überhaupt ein tauglicher Beweisantrag vorliegt: Um überhaupt von einem tauglichen Beweisantrag iSd § 183 BAO sprechen zu können, muss dieser aus formalen Gründen nicht nur das Beweismittel, sondern auch das Beweisthema nennen.10 Dazu muss ein Beweisantrag auch spezifiziert sein, wie zB die Nennung von Zeugen aufweisen. Weiters muss erkennbar sein, welche konkreten Tatsachenbehauptungen im Einzelnen durch das Beweismittel erwiesen werden sollen.11 Abzulehnen sind Beweisanträge ua dann, wenn die unter Beweis zu stellenden Tatsachen "als richtig anerkannt werden" (bzw bei der Abgabenbehörde offenkundig sind) oder "unerheblich" sind (also der Antrag nicht einmal mittelbar zur Klärung einer sachverhaltserheblichen Tatsache beiträgt), wenn die Beweisaufnahme mit "unverhältnismäßigem Kostenaufwand verbunden" wäre (es sei denn, dass die Partei sich zur Tragung der Kosten bereit erklärt und für diese Sicherheit leistet) oder "wenn aus den Umständen erhellt, daß die Beweise in der offenbaren Absicht, das Verfahren zu verschleppen, angeboten worden sind".12

Insbesondere aus der erwähnten "Unerheblichkeit" sind die materiellen Anforderungen an Beweisanträge abzuleiten: Wie gesagt müssen Beweisanträge zumindest mittelbar zur Klärung einer sachverhaltserheblichen Tatsache beitragen; ein Beweisantrag muss somit für das konkrete Beschwerdeverfahren ent-


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scheidungsrelevant sein und das Beweismittel muss für einen Beweis eines Sachverhaltselementes tauglich sein. Die Judikatur fordert dazu "ein Mindestmaß an Plausibilitätsbehauptung über die zumindest abstrakte Eignung des angebotenen Beweismittels, das betroffene Beweisthema erweisen zu können".13 Ein Beweisthema kann übrigens nur Tatsachenfragen zum Inhalt haben (diese Voraussetzung fehlt bei Rechtsfragen, zu denen ein Zeuge nicht vernommen werden könnte).14

Die erwähnte Verschleppungsabsicht wird in der Literatur eher restriktiv gesehen.15 Aus der bisherigen Judikatur kann entnommen werden, dass die Verschleppungsabsicht subjektiv zu beurteilen ist,16 wobei auch aus den äußeren Umständen auf die subjektive Absicht geschlossen werden kann.17 Aus dem Umstand, dass Beweisanträge bereits früher hätten gestellt werden können, kann alleine jedenfalls keine Verschleppungsabsicht abgeleitet werden.18 UE setzt die "Verschleppungsabsicht" eine subjektive Absicht voraus: Aus den Gesetzesmaterialien zum AbgÄG 2022 kann abgeleitet werden, dass die neue allgemeine Verfahrensförderungspflicht des § 270 Abs 2 BAO auf objektive Umstände abstellen und daher aus systematischer Sicht den Tatbestand der subjektiven Verschleppungsabsicht in § 183 Abs 3 BAO ergänzen soll.19

b. Die alte Rechtslage vor dem AbgÄG 2022: Beweisanträge sind auch noch nach einem Beschluss eines Entscheidungsvorbehalts durch das Verwaltungsgericht zulässig - keine besondere Bedeutung der "Schließung" der mündlichen Verhandlung

Die alte Rechtslage vor dem AbgÄG 2022 stellte sich wie folgt dar: Auf neue Tatsachen, Beweise und Anträge, die der Abgabenbehörde oder dem Verwaltungsgericht im Laufe des Beschwerdeverfahrens zur Kenntnis gelangen, ist gem § 270 BAO aF Bedacht zu nehmen, auch wenn dadurch das Beschwerdebegehren geändert oder ergänzt wird. "Im Laufe" im Sinne dieser Bestimmung ist dabei das Beschwerdeverfahren so lange, als es nicht abgeschlossen ist. Abgeschlossen ist das Beschwerdeverfahren erst dann, wenn eine wirksame Entscheidung erging.

Hierbei gibt es - nach alter wie nach neuer Rechtslage - zwei Möglichkeiten: Entweder die mündliche Verhandlung "schließt", sofern sie nicht vertagt wird (siehe dazu noch unten), mit der Verkündung der Entscheidung über die Beschwerde (mündliche Verkündung). Die schriftliche Ausfertigung der Beschwerde muss jedoch immer auch zugestellt werden. Im Senatsverfahren hat allerdings nach der mündlichen Verhandlung noch die Beratung und Abstimmung zu erfolgen, weswegen die mündliche Verkündung erst danach erfolgen kann.20 Oder aber es wird - als zweite Möglichkeit - vom Verwaltungsgericht der Beschluss verkündet, dass die Entscheidung der schriftlichen Ausfertigung vorbehalten bleibt (vgl zum Ganzen § 277 Abs 4 BAO).21 Dieser Beschluss eines Entscheidungsvorbehalts stellt nach wohl hM einen rein verfahrensleitenden Beschluss dar, der daher nicht gem § 25a Abs 3 VwGG mit Revision an den VwGH (und ebenso wenig gem § 85a VfGG mit Beschwerde an den VfGH) anfechtbar ist.22

Falls keine Entscheidung ergehen soll, kommt als weitere Möglichkeit die Vertagung der mündlichen Verhandlung in Betracht (siehe dazu noch unten).

Beide Vorgehensweisen - die (mündliche) Verkündung der Entscheidung über die Beschwerde und die Verkündung des Beschlusses über einen Entscheidungsvorbehalt - sind grundsätzlich als gleichwertig anzusehen, dh der Gesetzgeber hat die Verkündung der Entscheidung über die Beschwerde unmittelbar unter dem Eindruck der mündlichen Verhandlung nicht als vorrangig angeordnet.23 In der Praxis dürfte übrigens die Verkündung der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht unmittelbar im Anschluss an die mündliche Verhandlung eher nicht der Regelfall sein, da auch das mündlich verkündete Erkenntnis nach der Rechtsprechung des VfGH die tragenden Elemente der Begründung enthalten muss,24 was einen gewissen Aufwand bedeutet (der sonst sozusagen unter einem in der schriftlichen Ausfertigung vorgenommen würde).

Fraglich ist, wie die erwähnte "Schließung" der mündlichen Verhandlung verfahrensrechtlich einzuordnen ist. Einerseits könnte es sich um einen rein faktischen Vorgang handeln, der entweder der Verkündung der Entscheidung unmittelbar vorangeht (dh mit der mündlichen Verkündung wäre zwingend auch eine "Schließung" der mündlichen Verhandlung verbunden) oder der zwingend mit dem Beschluss über einen Entscheidungsvorbehalt verbunden ist (dh mit dem Entscheidungsvorbe-


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halt ist ebenfalls zwingend auch eine "Schließung" der Verhandlung verbunden). Andererseits spricht uE die Systematik eher für eine verfahrensrechtliche Entscheidung, auch wenn hier kein übertriebener Formalismus anzuwenden ist und sich die "Schließung" idR konkludent entweder aus der mündlichen Verkündung der Entscheidung oder aber aus dem Beschluss eines Entscheidungsvorbehalts ergeben wird.25 Folgt man der oben dargestellten hM, stellt uE aufgrund eines Größenschlusses die im Gesetz angesprochene "Schließung" der mündlichen Verhandlung (arg "so ‚schließt‘ sie mit der Verkündung der Entscheidung über die Beschwerde"), in gleicher Weise wie der Beschluss eines Entscheidungsvorbehalts, einen nicht anfechtbaren verfahrensleitenden Beschluss dar. Dies gilt uE ebenfalls nach dem AbgÄG 2022, da erstens der Wortlaut unverändert blieb und zweitens - aufgrund der Konsequenzen eines Neuerungsverbots - spätestens seit dem AbgÄG 2022 keinesfalls mehr von einem rein faktischen Vorgang, sondern jedenfalls von einem verfahrensleitenden Beschluss auszugehen ist.26

Sofern keine mündliche Verkündung unmittelbar nach der mündlichen Verhandlung stattgefunden hat - was wie erwähnt eher nicht der Regelfall ist -, sondern vielmehr die Entscheidung der schriftlichen Ausfertigung vorbehalten wurde (Entscheidungsvorbehalt), liegt eine solche Entscheidung erst mit der Zustellung der schriftlichen Erledigung gem § 97 Abs 1 lit a BAO vor. Hat sich das Verwaltungsgericht mit den gestellten Beweisanträgen, die zwar nach "Schließung" der mündlichen Verhandlung, aber noch vor Zustellung dieser Entscheidung erfolgt sind, nicht auseinandergesetzt, fällt dem Verwaltungsgericht die Verletzung von Verfahrensvorschriften zur Last, bei deren Einhaltung es zu einem anderen Erkenntnis (oder Beschluss) hätte kommen können. Das angefochtene Erkenntnis des Verwaltungsgerichts ist daher in einem solchen Fall gem § 42 Abs 2 Z 3 lit c VwGG aufzuheben.27

Somit wird die Problematik der alten Rechtslage - dh vor dem AbgÄG 2022 - deutlich: Wurde nach dem Ende der mündlichen Verhandlung nicht die Entscheidung (idR das Erkenntnis) verkündet (womit idR konkludent eine "Schließung" der mündlichen Verhandlung verbunden ist) und damit gleichzeitig die Entscheidung bekanntgegeben (§ 97 Abs 1 lit b BAO), sondern ein Beschluss über den Entscheidungsvorbehalt gefasst (womit ebenfalls idR konkludent eine "Schließung" verbunden ist), so war es zulässig, dass der Beschwerdeführer auch danach - und zwar bis zur Zustellung der schriftlichen Erledigung der Entscheidung - noch Beweisanträge stellte, mit denen sich das Verwaltungsgericht auseinandersetzen musste,28 wollte es die Aufhebung seiner Entscheidung infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vermeiden.29 Eine besondere Bedeutung hatte, wie die obenstehenden Ausführungen zeigen, die "Schließung" der mündlichen Verhandlung nach der alten Rechtslage vor dem AbgÄG 2022 nicht (und zwar unabhängig davon, wie man sie verfahrensrechtlich einordnete).

c. Exkurs: "Schließung" der mündlichen Verhandlung versus Vertagung vor und nach dem AbgÄG 2022

Dass eine Vertagung möglich ist bzw möglich sein muss, ergibt sich nicht zuletzt aus der Bestimmung des § 275 Abs 2 BAO, in der von "vorangegangenen mündlichen Verhandlungen" die Rede ist.30 Auch dabei handelt es sich um einen nicht anfechtbaren verfahrensleitenden Beschluss.31

Die Rechtsprechung des VwGH geht auf die Problematik einer Vertagung insb im Zusammenhang mit dem Fehlen eines Grundsatzes der Unmittelbarkeit im Abgabenverfahren ein; so gibt es keinen Grundsatz der Unmittelbarkeit, und zwar weder in der Form, dass Beweise in der mündlichen Verhandlung aufgenommen werden müssten, noch in der Form, dass der - im Falle der Senatszuständigkeit - erkennende Senat durchgehend gleich besetzt sein müsste. Die Berufs- und Laienrichter können im Zuge einer mündlichen Verhandlung auch wechseln, was hingegen nach dem VwGVG ausgeschlossen wäre (vgl § 25 Abs 7 VwGVG, wonach diesfalls die Verhandlung zu wiederholen ist). Dementsprechend führt der VwGH zum Beschwerdeverfahren in Abgabensachen (gemeint: vor dem Verwaltungsgericht wie insb dem BFG) aus, dass dieses nicht vom Grundsatz der Unmittelbarkeit beherrscht wird. Bei einer - nach Vertagung - fortgesetzten


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Verhandlung genügt es, selbst wenn die persönliche Zusammensetzung des Senates mit jener in der vorhergehenden Verhandlung nicht identisch ist, gem § 275 Abs 2 BAO, dass der Berichterstatter die Ergebnisse etwa bereits durchgeführter Beweisaufnahmen oder "vorangegangener mündlicher Verhandlungen" vorträgt. Keine Vorschrift sieht vor, dass das Ergebnis des bisherigen Verfahrens in der fortgesetzten Verhandlung Wort für Wort aus den Akten verlesen werden muss; vielmehr reicht es hin, dass der Berichterstatter dem Senat ein klares Bild von den bisherigen Verfahrensergebnissen verschafft. Es genügt, dass alle wesentlichen Punkte hierbei zur Erörterung gelangen.32 Sofern Mängel im Ermittlungsverfahren aufgetreten sind, genügt es, wenn diese mittlerweile beseitigt wurden.33

Unter Umständen kann allerdings eine Vertagungspflicht bestehen (wenn zB klar ist, dass entweder der Beschwerdeführer oder sein Vertreter nicht teilnehmen können); kommt das Verwaltungsgericht dieser Vertagungspflicht nicht nach, ist dies dem Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung gleichzuhalten, was unter den Voraussetzungen des § 42 Abs 2 Z 3 lit c VwGG (das Verwaltungsgericht hätte bei Einhaltung der Verfahrensvorschriften zu einer anderen Entscheidung hätte kommen können; es muss also ein wesentlicher Verfahrensfehler vorliegen) zur Aufhebung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts durch den VwGH im Revisionsfall führt.34

Aus dem vorstehend Gesagten kann geschlossen werden, dass eine Vertagung von der "Schließung" der mündlichen Verhandlung klar zu unterscheiden ist. Dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus den Gesetzesmaterialien zum AbgÄG 2022: "Wird die mündliche Verhandlung vertagt (§ 277 Abs. 4 erster Fall BAO), so wird sie nicht geschlossen, weshalb diesfalls auch zukünftig kein Neuerungsverbot greift."  35 Eine solche Vertagung hat nach dem AbgÄG 2022, im Unterschied zur Schließung, keine weiteren Konsequenzen hinsichtlich des Neuerungsverbots. Sämtliche Beweisanträge sind in der fortgesetzten Verhandlung zulässig. Auch hinsichtlich der Unmittelbarkeit sind an die fortgesetzte mündliche Verhandlung keine besonderen Anforderungen zu stellen: Da wie gesagt der Grundsatz der Unmittelbarkeit im Abgabenverfahren nicht gilt, genügt - selbst wenn die persönliche Zusammensetzung des Senates mit jener in der vorhergehenden Verhandlung nicht identisch ist - gem § 275 Abs 2 BAO, dass der Berichterstatter die Ergebnisse etwa bereits durchgeführter Beweisaufnahmen oder vorangegangener mündlicher Verhandlungen in der Form vorträgt, dass er dem Senat ein klares Bild von den bisherigen Verfahrensergebnissen verschafft (wobei es genügt, dass alle wesentlichen Punkte erörtert werden; eine Verlesung von Protokollen oder anderen Beweismitteln ist nicht nötig).

2. Die Neuerungen des AbgÄG in § 270 Abs 1 BAO - die "Schließung" der mündlichen Verhandlung

a. Die Regelung der "Schließung" der mündlichen Verhandlung in § 39 AVG als mögliches Vorbild für die Neuregelung des § 270 Abs 1 BAO?

In diesem und im folgenden Abschnitt soll die Frage untersucht werden, inwieweit sich die Bestimmung des § 270 Abs 1 BAO über die "Schließung" einer mündlichen Verhandlung an § 39 AVG, und zwar insb an Abs 3 ff, orientiert. Gemäß § 39 Abs 3 AVG kann nämlich "die Behörde [wenn die Sache zur Entscheidung reif ist] das Ermittlungsverfahren durch Verfahrensanordnung für geschlossen erklären". § 39 AVG ist gem § 17 VwGVG auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nach dem VwGVG anzuwenden. Eine Orientierung an dieser Bestimmung wäre - zumindest auf den ersten Blick - wegen der dogmatischen Parallelen zwischen dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren nach dem VwGVG und jenem nach der BAO naheliegend.

Die Stammfassung des § 39 AVG durch BGBl I 1998/58 warf erhebliche Zweifel über ihre eigenständige normative Bedeutung auf;36 es änderte sich praktisch kaum etwas (was nach der damaligen Rechtslage - vor der Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit 2014 - insb daran lag, dass nova reperta et producta ohne Einschränkungen vor der Berufungsbehörde vorgebracht werden konnten).37

Vor diesem Hintergrund hat sich die Novelle BGBl I 2018/57 explizit das Ziel gesetzt, durch die Möglichkeit, das Verfahren zu schließen, "Verfahrensverschleppungen" durch die Parteien zu verhindern, was auch die Gesetzesmaterialien betonen.38 Ausweislich der Gesetzesmaterialien soll nach dieser "Schließung" die Fortsetzung eines einmal geschlossenen Ermittlungsverfahrens auf Antrag einer Partei nur mehr unter den besonderen Voraussetzungen einer Wiederaufnahme iSd § 69 Abs 1 Z 2 AVG möglich sein,39 also bei Vorliegen von nova reperta.40 Nicht nur die Behörde (gem § 39 Abs 3 ff AVG), sondern auch das Verwaltungsgericht (gem § 39 AVG iVm § 17 VwGVG) kann das Ermittlungsverfahren auf der Grundlage dieser Bestimmung schließen.41 Diese "Schließung" steht allerdings im Ermessen der Behörde bzw des Verwaltungsgerichts.42 Voraussetzung ist - bereits nach dem Wortlaut des § 39 Abs 3 AVG - die "Entscheidungsreife"; es muss also der Sachverhalt hinreichend ermittelt und Parteiengehör gewährt worden sein.43 Die "Schließung" hat durch eine "Verfahrensanordnung", dh - sofern sie durch das Verwaltungsgericht erfolgt - durch verfahrensleitenden Beschluss zu erfolgen;


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gegen diesen ist eine abgesonderte Revision nicht zulässig.44 Die Rechtsfolgen dieser "Schließung" ergeben sich aus den - durch BGBl I 2018/57 - angefügten Abs 4 und 5: Das Ermittlungsverfahren ist auf Antrag fortzusetzen, wenn eine Partei glaubhaft macht, dass Tatsachen oder Beweismittel ohne ihr Verschulden nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Ermittlungsverfahrens - im verwaltungsgerichtlichen Verfahren - voraussichtlich ein anderes Erkenntnis des Verwaltungsgerichts herbeiführen würden. Damit sind zwei Voraussetzungen für eine Fortsetzung normiert, und zwar eine objektive sowie eine subjektive. Die objektive Voraussetzung ist wie gesagt an die Wiederaufnahme nach § 69 Abs 1 Z 2 AVG angelehnt ("nova reperta"): Das nachträglich Vorgebrachte muss allerdings nicht nur ein anderes Verfahrensergebnis möglich machen (wie dies noch nach der Stammfassung des § 39 AVG der Fall war),45 sondern das Vorgebrachte muss "voraussichtlich" zu einem anderen Spruch des Erkenntnisses führen.46 Es muss damit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen anderen Spruch bestehen.47 Als subjektive Voraussetzung muss die Partei glaubhaft machen, dass die nachträglich vorgetragenen Tatsachen oder Beweismittel ohne ihr Verschulden nicht vor der "Schließung" geltend gemacht werden konnten; dabei ist schon leichte Fahrlässigkeit schädlich.48 An den von § 39 Abs 4 AVG erwähnten "Antrag" der Partei sind keine übertriebenen formalen Anforderungen zu stellen; es genügt, wenn das Parteienvorbringen bei materieller Betrachtung insgesamt als Fortsetzungsbegehren gewertet werden kann.49 Die Entscheidung über diesen "Antrag" erfolgt gem § 39 Abs 4 zweiter Satz AVG wiederum explizit durch bloße "Verfahrensanordnung".50 Die Sperrwirkung des § 39 Abs 4 AVG ist allerdings befristet: § 39 Abs 5 AVG soll "Vorkehrungen dagegen treffen, dass zwischen dem Schluss des Ermittlungsverfahrens und der Erlassung des Bescheides ein allzu langer Zeitraum verstreicht".51 Die dafür normierte Frist beträgt acht Wochen und beginnt mit jenem Zeitpunkt, zu dem erstmals einer Partei gegenüber das Ermittlungsverfahren für geschlossen erklärt worden ist. Sie ist gewahrt, wenn - im Fall der "Schließung" durch das Verwaltungsgericht - dessen Erkenntnis bis zum Ablauf dieser Frist gegenüber einer Partei erlassen wird.52 Wird die Frist nicht gewahrt, "gilt das Ermittlungsverfahren als nicht geschlossen" (§ 39 Abs 5 AVG).53

Die Vorschrift über die "Schließung" der mündlichen Verhandlung iSd § 39 Abs 3 ff AVG enthält also einen gewissen Formalismus, und zwar bezüglich der Anordnung der "Schließung" (durch bloße Verfahrensanordnung), bezüglich des Parteienantrages auf Fortsetzung (wobei diesbezüglich allerdings kein übertriebener Formalismus anzuwenden ist) und der Entscheidung über den Fortsetzungsantrag (wiederum durch Verfahrensanordnung). Interessant sind die subjektiven und objektiven Voraussetzungen für die Fortsetzung; darauf soll in weiterer Folge noch eingegangen werden. Zu den objektiven Voraussetzungen ist bereits an dieser Stelle festzuhalten, dass sich der in § 39 Abs 4 AVG genannte Maßstab - das nachträglich Vorgebrachte ("nova reperta") muss "voraussichtlich" zu einem anderen Spruch des Erkenntnisses führen, womit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen anderen Spruch bestehen muss - vom Prüfungsmaßstab des VwGH bei Aufhebung infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gem § 42 Abs 2 Z 3 lit c VwGG unterscheidet (worauf unten noch eingegangen werden soll).

b. Kein Vorbildcharakter der "Schließung" der mündlichen Verhandlung in § 39 Abs 3 ff AVG - die Rechtsentwicklung und die ablehnende Haltung der Gesetzesmaterialien zum AbgÄG 2022

Als Antwort auf diese Frage ist zunächst festzuhalten, dass die Gesetzesmaterialien nicht ausdrücklich sagen, dass die "Schließung" der mündlichen Verhandlung in § 39 Abs 3 ff AVG Vorbild für § 270 Abs 1 BAO war. Die Materialien bringen lediglich zur Sprache, dass der Abs 2a des § 39 AVG Pate für die Verfahrensförderungspflicht des § 270 Abs 2 BAO stand: "Dieselbe Regelung findet sich derzeit bereits in § 39 Abs. 2a AVG."54

Im Schrifttum wird sogar gegenteilig argumentiert: So weist Peter Unger , der Präsident des BFG, darauf hin, dass § 39 Abs 3 ff AVG gerade nicht Vorbild für § 270 Abs 1 BAO war: "Seitens des BFG liefen die diesbezüglichen legistischen Initiativen im Einklang mit den Empfehlungen des Rechnungshofes zunächst in eine andere Stoßrichtung, namentlich der Übernahme einer formellen Schließung des Ermittlungsverfahrens in die BAO nach dem Vorbild des § 39 Abs 2a und 3 bis 5 AVG. Im Zuge der entsprechenden Überlegungen und Beratungen des BMF auch mit Vertretern der KSW [Kammer der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer] und der nachgeordneten Dienststellen traten verschiedene Unzulänglichkeiten der besagten AVG-Bestimmung zu Tage, welche auch in der einschlägigen Fachliteratur umfassend aufgearbeitet wurden. 55 Als Ergebnis dieser Beratungen entschied der Gesetzgeber, von der Einführung eines formellen Schlusses des Ermittlungsverfahrens vor dem BFG Abstand zu nehmen und nach alternativen Umsetzungsmöglichkeiten zu suchen."56


Die "Schließung der mündlichen Verhandlung" nach § 270 BAO idF AbgÄG 2022 - wie umfassend ist das Neuerungsverbot? - Anfang Seite 36

Auf der Grundlage der Vorschläge des Rechnungshofes wurde nämlich ursprünglich diskutiert, eine "Schließung" der mündlichen Verhandlung (allerdings im Gegensatz zum AVG nur vor dem Verwaltungsgericht [idR das BFG], nicht auch im abgabenbehördlichen Verfahren) nach dem Vorbild des § 39 Abs 3 ff AVG einzuführen. Im Unterschied zum Vorbild des AVG sollte allerdings bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln kein Parteienantrag auf Fortsetzung erforderlich sein - womit der diesbezügliche Formalismus zur Gänze vermieden wurde (die Fortsetzung des Ermittlungsverfahrens sollte damit im Ermessen des Verwaltungsgerichts stehen). Die übrigen Voraussetzungen des § 39 Abs 3 ff AVG sollten aber auch in der BAO übernommen werden: neue Tatsachen und Beweismittel, die unverschuldet nicht geltend gemacht wurden, und ein voraussichtlich anderer Spruch des Erkenntnisses ("Macht eine Partei glaubhaft, dass Tatsachen oder Beweismittel ohne ihr Verschulden bis zum Schluss des Ermittlungsverfahrens (Abs. 3) nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Ermittlungsverfahrens voraussichtlich eine im Spruch anders lautende Entscheidung herbeiführen würden, kann das Verwaltungsgericht das Ermittlungsverfahren wieder fortsetzen.").57

Damit ist, aufgrund der Hinweise von Peter Unger zur Genese des § 270 Abs 1 BAO und aufgrund des Schweigens der Gesetzesmaterialien - die lediglich Abs 2a des § 39 AVG, aber gerade nicht Abs 3 ff leg cit erwähnen -, der klare Schluss zu ziehen, dass für die Regelung der "Schließung" der mündlichen Verhandlung in § 270 Abs 1 BAO die Bestimmung des § 39 Abs 3 ff AVG (iVm § 17 VwGVG) gerade kein Vorbild war. Der Zusammenhang zu § 39 Abs 3 ff AVG ist aber für die Interpretation des § 270 Abs 1 BAO insoweit bedeutsam, als - folgt man den Hinweisen von Peter Unger - mit der Einführung dieser Bestimmung gerade kein "formeller Schluss" des Ermittlungsverfahrens vor dem BFG (bzw vor den Verwaltungsgerichten im Anwendungsbereich der BAO), sondern vielmehr eine "alternative Umsetzung" beabsichtigt war. Somit sollte § 270 Abs 1 BAO offenbar weniger formalistisch gehandhabt und - uE - einen weniger restriktiven Effekt als § 39 Abs 3 ff AVG aufweisen. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass die von § 39 Abs 3 ff AVG gestellten Ansprüche, an die § 270 Abs 1 BAO demnach nicht heranreichen soll, insoweit - im negativen Sinne - für die Auslegung dieser Bestimmung herangezogen werden können. Dabei wird zu untersuchen sein, inwieweit die ursprünglich diskutierten Voraussetzungen - die Berücksichtigung von neuen Tatsachen und Beweismitteln, die ohne Verschulden bisher nicht berücksichtigt werden konnten, und eine im Spruch anders lautende Entscheidung des Verwaltungsgerichts - eine Rolle spielen können.

c. Vorbildcharakter des § 193 ZPO?

Dass § 193 ZPO für die "Schließung" der mündlichen Verhandlung in § 270 Abs 1 BAO Pate stand, ergibt sich weder aus den Gesetzesmaterialien noch gibt es dafür sonst Anhaltspunkte. Die Bestimmung des § 193 ZPO wurde lediglich in einer Novelle zur oben erwähnten Bestimmung des § 39 Abs 3 ff AVG erwähnt (Abschn I.C.2.a.).58 Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich allerdings nicht, dass § 39 Abs 3 ff AVG unmittelbar als Vorbild für die Bestimmung des § 270 Abs 1 BAO herangezogen werden kann. Vielmehr ist uE zu schließen (wenn man den im vorangegangenen Abschnitt erwähnten Hinweisen von Peter Unger folgt), dass für die Regelung des § 270 Abs 1 BAO gerade kein "formeller Schluss" des Ermittlungsverfahrens, sondern vielmehr eine "alternative Umsetzung" beabsichtigt war. Somit sollte § 270 Abs 1 BAO offenbar weniger formalistisch gehandhabt werden und - uE - einen weniger restriktiven Effekt als § 39 Abs 3 ff AVG aufweisen.

War schon § 39 Abs 3 ff AVG - ausweislich der Gesetzesmaterialien - kein Vorbild für § 270 Abs 1 BAO, so gilt dies daher umso mehr für § 193 ZPO.

Dennoch weist diese Bestimmung gewisse dogmatische Parallelen auf, sodass in weiterer Folge zu untersuchen ist, inwieweit die von § 193 ZPO gestellten Anforderungen aus inhaltlicher Sicht auf § 270 Abs 1 BAO übertragen werden könnten.

Die wichtigste Rechtsfolge bzw Konsequenz des § 193 ZPO liegt für die hier interessierenden Zwecke darin, dass der Schluss der Verhandlung zur Folge hat, dass die Parteien von neuem Vorbringen ausgeschlossen sind. Des Weiteren sind idR Verfahrensschritte der Parteien nach dem Schluss der Verhandlung nicht mehr zulässig.59 Dies bewirkt im Ergebnis ein absolutes Neuerungsverbot. Es stellt sich daher insb die Frage (auf die unten noch eingegangen werden soll), ob eine solche Konsequenz eines absoluten bzw strikten Neuerungsverbots auch auf § 270 Abs 1 BAO übertragen werden soll bzw kann.

d. Was sind die Konsequenzen einer "Schließung der mündlichen Verhandlung" nach § 270 Abs 1 BAO - gilt das Neuerungsverbot absolut?

Wie oben gesagt (Abschn I.C.2.a. und b.) ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien zum AbgÄG 2022 nicht, dass § 39 Abs 3 ff AVG unmittelbar als Vorbild für die Bestimmung des § 270 Abs 1 BAO herangezogen werden kann. Vielmehr ist zu schließen (den erwähnten Hinweisen von Peter Unger folgend), dass für die Regelung des § 270 Abs 1 BAO die Bestimmung des § 39 Abs 3 ff AVG (iVm § 17 VwGVG) gerade kein Vorbild war. Demnach war gerade kein "formeller Schluss" des Ermittlungsverfahrens beabsichtigt, sondern vielmehr eine "alternative Umsetzung". Somit sollte § 270 Abs 1 BAO offenbar weniger formalistisch gehandhabt werden. Des Weiteren ist - uE - aufgrund der Hinweise von Peter Unger zu schließen, dass § 270 Abs 1 BAO einen weniger restriktiven Effekt als § 39 Abs 3 ff AVG aufweisen sollte (dazu sogleich).

War schon § 39 Abs 3 ff AVG - ausweislich der Gesetzesmaterialien - kein Vorbild für § 270 Abs 1 BAO, so gilt dies genauso für § 193 ZPO. Es kann daher aufgrund der historischen Auslegung nicht der Schluss gezogen werden, dass das in § 270 Abs 1 BAO


Die "Schließung der mündlichen Verhandlung" nach § 270 BAO idF AbgÄG 2022 - wie umfassend ist das Neuerungsverbot? - Anfang Seite 37

ab der "Schließung" der mündlichen Verhandlung geltende Neuerungsverbot genauso absolut bzw strikt zu verstehen ist wie jenes nach § 193 ZPO (wonach die Parteien von jeglichem neuen Vorbringen ausgeschlossen sind).

Die Vorschrift über die "Schließung" der mündlichen Verhandlung iSd § 39 Abs 3 ff AVG enthält wie gesagt einen gewissen Formalismus (Anordnung der "Schließung" - allerdings nur durch bloße Verfahrensanordnung -, Parteienantrag auf Fortsetzung - wobei wie gesagt kein übertriebener Formalismus anzuwenden ist - und Entscheidung über den Fortsetzungsantrag - wiederum durch Verfahrensanordnung). Zu den objektiven Voraussetzungen für die Fortsetzung gehört, dass gemäß dem in § 39 Abs 4 AVG normierten Maßstab das nachträglich Vorgebrachte ("nova reperta") "voraussichtlich" zu einem anderen Spruch des Erkenntnisses führen muss, womit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen anderen Spruch bestehen muss. Als subjektive Voraussetzung für die Fortsetzung muss die Partei glaubhaft machen, dass die nachträglich vorgetragenen Tatsachen oder Beweismittel ohne ihr Verschulden nicht vor der "Schließung" geltend gemacht werden konnten; dabei ist schon leichte Fahrlässigkeit schädlich.

Da wie gesagt aus der historischen Auslegung - kein Vorbildcharakter des § 39 Abs 3 f AVG und auch keine Vorbildwirkung des restriktiven § 193 ZPO - der Schluss gezogen werden kann, dass § 270 Abs 1 BAO jedenfalls keine restriktiveren Voraussetzungen aufstellen wollte als § 39 Abs 3 ff AVG, bedeutet dies uE für die Wirkung des Neuerungsverbotes ab "Schließung" der mündlichen Verhandlung Folgendes:

UE ist davon auszugehen, dass neue Beweisanträge ab "Schließung" der mündlichen Verhandlung zunächst objektive Voraussetzungen erfüllen müssen. Mangels einer Sonderregelung wie in § 39 Abs 4 AVG sind dabei nicht die Voraussetzungen wie bei einer Wiederaufnahme ("nova reperta") erforderlich. UE können daher auch nach "Schließung" der mündlichen Verhandlung neue Tatsachen und Beweismittel durch Beweisantrag vorgebracht werden, bei denen es sich sowohl um nova reperta als auch um neu entstandene (nova producta) handeln kann, was auch dem bisherigen Verständnis des § 270 BAO vor dem AbgÄG 2022 entsprach.60 Des Weiteren muss - mangels einer Sonderregelung wie in § 39 Abs 4 AVG - auch keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen anderen Spruch bestehen, wie dies noch im Zuge der Diskussion zur Neufassung des § 270 BAO vorgeschlagen wurde,61 sondern es kommen uE demgegenüber aus objektiver Sicht die allgemeinen Voraussetzungen für die Vermeidung von Verfahrensfehlern durch die Verwaltungsgerichte zur Anwendung: § 42 Abs 2 Z 3 lit c VwGG sieht eine Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften durch den VwGH dann vor, wenn das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Erkenntnis oder Beschluss hätte kommen können". Dabei genügt nach ganz hM im Schrifttum und nach der Rechtsprechung die Möglichkeit einer anderen Entscheidung des Verwaltungsgerichts; die Wahrscheinlichkeit einer anderen Entscheidung muss vom Revisionswerber hingegen nicht dargelegt werden.62 Diese objektiven Voraussetzungen, die sogenannte "Wesentlichkeit" bei Verfahrensfehlern - wie sie nach stRsp des VwGH der Revisionswerber durch ein konkretes Vorbringen aufzeigen müsste (dh er müsste aufzeigen, zu welchem anderen Ergebnis das Verwaltungsgericht hätte kommen können)63 -, muss auf Ebene des Verwaltungsgerichts die Partei darlegen. Die Partei muss also - neben den allgemeinen Voraussetzungen für Beweisanträge (siehe Abschn I.C.1.a.) - zumindest glaubhaft machen, dass der Beweisantrag "wesentlich" ist, dh seine Nicht-Berücksichtigung durch das Verwaltungsgericht zu einem Verfahrensfehler würden würde.

Aus subjektiver Sicht muss uE die Partei bei einem nach "Schließung" der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag glaubhaft machen, dass kein Verschulden vorliegt. Dies ergibt sich allerdings nicht aus einer Sonderregelung wie nach § 39 Abs 4 AVG, sondern daraus, dass die allgemeinen Anforderungen an Beweisanträge gem § 183 Abs 3 BAO selbstverständlich auch für jene Beweisanträge gelten, die nach "Schließung" der mündlichen Verhandlung gestellt wurden (siehe Abschn I.C.1.a.). Die Partei muss uE also lediglich glaubhaft machen, dass keine offenbare Absicht vorliegt, das Verfahren zu verschleppen und dabei auch das Fehlen einer subjektiven Absicht glaubhaft machen.

Dieses Ergebnis steht mit den Gesetzesmaterialien in Einklang: Nach den Materialien soll nämlich zwischen der allgemeinen Verfahrensförderungspflicht gem § 270 Abs 2 BAO einerseits und der Regelung des § 270 Abs 1 BAO nF über die "Schließung" der mündlichen Verhandlung andererseits unterschieden werden, da letztere als zusätzlicher Beitrag zur Verfahrensförderung von der allgemeinen Verfahrensförderungspflicht des Abs 2 zu unterscheiden ist. Wie die Materialien betonen, soll die Regelung über die Rechtsfolgen der Schließung "[...] einen Beitrag gegen verfahrensverschleppende Maßnahmen darstellen." Diese Formulierung der Materialien legt wiederum nahe, dass ein systematischer Zusammenhang zur Verschleppungsabsicht besteht.

Zusammenfassend kann damit festgehalten werden, dass uE auch nach "Schließung" der mündlichen Verhandlung Beweisanträge gestellt werden können, mit denen sich das Verwaltungsgericht - sofern die Entscheidung noch nicht zugestellt wurde - auseinandersetzen muss. § 270 Abs 1 (letzter Satz) BAO bewirkt somit kein absolutes Neuerungsverbot (hätte der historische Gesetzgeber ein solches absolutes Neuerungsverbot beabsichtigt, hätte er - in den Gesetzesmaterialien - zu erkennen gegeben, dass er an die Bestimmung des § 193 ZPO als Vorbild anknüpfen wollte, was er aber gerade nicht getan hat). Voraussetzung wird allerdings objektiv sein, dass die Partei erstens die allgemeinen Voraussetzungen für Beweisanträge gem § 183 Abs 3 BAO beachtet. Zweitens ist aus objektiver Sicht erforderlich, dass die Par-


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tei also zumindest glaubhaft machen muss, dass der Beweisantrag "wesentlich" ist, dh seine Nicht-Berücksichtigung durch das Verwaltungsgericht zu einem Verfahrensfehler führen würde. Aus subjektiver Sicht muss die Partei das Fehlen einer subjektiven Verschleppungsabsicht glaubhaft machen.64 Die eigenständige normative Bedeutung der neuen Regelung des § 270 Abs 1 BAO - über die für Beweisanträge geltenden allgemeinen Voraussetzungen gem § 183 Abs 3 BAO hinaus - liegt daher darin, dass die Behauptungs- und Beweislast für die Erfüllung dieser Voraussetzungen bei nach "Schließung" der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträgen jedenfalls bei der Partei liegt.65

II. Inkrafttreten der Neuerungen des AbgÄG 2022

Das AbgÄG 2022 trat grundsätzlich mit dem Folgetag seiner Kundmachung, dies ist der 20. 7. 2022, in Kraft.66 Für die hier interessierenden Bestimmungen gilt allerdings eine Sonderregelung gem § 323 Abs 73 BAO idF AbgÄG 2022: "§ 183 Abs. 3 und § 270 sind erstmals auf Beschwerdevorlagen bzw. Beschwerdeeingänge nach dem 31. August 2022 anzuwenden." Es kommt also auf das Einlangen der Beschwerde bzw die Stellung des Vorlageantrages an. Anders gesagt: Auf zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des AbgÄG 2022 offene Verfahren sind die Neuregelungen nicht anzuwenden.

Dies hat nach Peter Unger den folgenden Grund: " Es war schließlich auch den bereits erwähnten und immer vor Auge gehabten rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zuzuschreiben, dass die durch das AbgÄG 2022 normierten Neufassungen der §§ 183 und 270 BAO erst für Beschwerdevorlagen (für den Bereich der Bescheidbeschwerde) und Beschwerdeeingänge (für die Bereiche der Maßnahmen- und Säumnisbeschwerden) nach dem 31. 8. 2022 gelten werden, womit klargestellt wurde, dass diese in Abweichung von der ansonsten für Verfahrensrecht geltenden Grundregel nicht auf alle zum heutigen Tag offenen Fälle des BFG Anwendung finden sollen".67

III. Fazit

Wie in Abschn I.C.2.d. ausgeführt, können trotz der Neuregelung des § 270 Abs 1 (letzter Satz) BAO durch das AbgÄG 2022 uE auch nach "Schließung" der mündlichen Verhandlung Beweisanträge gestellt werden, mit denen sich das Verwaltungsgericht - sofern die Entscheidung noch nicht zugestellt wurde - auseinandersetzen muss. § 270 Abs 1 BAO bewirkt somit, im Gegensatz zu § 193 ZPO, kein absolutes Neuerungsverbot. Voraussetzung wird allerdings objektiv sein, dass die Partei erstens die allgemeinen Voraussetzungen für Beweisanträge gem § 183 Abs 3 BAO beachtet. Zweitens ist aus objektiver Sicht erforderlich, dass die Partei also zumindest glaubhaft machen muss, dass der Beweisantrag "wesentlich" ist, dh seine Nicht-Berücksichtigung durch das Verwaltungsgericht zu einem Verfahrensfehler führen würde. Aus subjektiver Sicht muss die Partei das Fehlen einer subjektiven Verschleppungsabsicht glaubhaft machen.

Die Konsequenz eines absoluten bzw strikten Neuerungsverbots, wie sie für § 193 ZPO gilt, ist uE auf § 270 Abs 1 BAO somit nicht anzuwenden: Auf Beweisanträge, die neben den allgemeinen Kriterien für Beweisanträge auch - aus objektiver Sicht - die Voraussetzung der "Wesentlichkeit" erfüllen (widrigenfalls ja keine Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegt) und bei denen aus subjektiver Hinsicht keine Verschleppungsabsicht vorliegt, muss uE auch nach "Schließung" der mündlichen Verhandlung - bis zur Zustellung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts - Bedacht genommen werden. Die dogmatische Bedeutung der Neuerung des § 270 Abs 1 BAO idF des AbgÄG 2022 liegt allerdings darin, dass die Behauptungs- und Beweislast für die Erfüllung dieser Voraussetzungen bei der Partei liegt.


2

Weswegen in der Praxis keine Bindung an die Beschwerdeerklärung gem § 250 Abs 1 lit b und lit c BAO besteht, was einen grundlegenden Unterschied zu § 9 Abs 1 Z 3 und Z 4 iVm § 27 VwGVG bedeutet; dazu zB Kneihs/Urtz, Verwaltungsgerichtliche Verfahren3 (2018) Rz 232.



4

ZB Kneihs/Urtz, Verwaltungsgerichtliche Verfahren3 Rz 159 ff (insb Rz 166). In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass ein Landesverwaltungsgericht nicht zwangsläufig auch für Landes- und Gemeindeabgaben zuständig ist. So hat über Beschwerden in Angelegenheiten der Landes- und Gemeindeabgaben in Wien nicht das Landesverwaltungsgericht Wien, sondern das Bundesfinanzgericht zu entscheiden: § 5 Wiener Abgabenorganisationsrecht (WAOR), LGBl 1962/21 idF LGBl 2013/46.


5

Siehe nochmals ErläutRV 1534 BlgNR 27. GP 36 (Hervorhebungen nicht im Original).


6

Als Argument kann weiters der allgemeine Teil der Erläuterungen angeführt werden, in dem klar zwischen der Verfahrensförderungspflicht einerseits und den Konsequenzen der "Schließung" der mündlichen Verhandlung andererseits differenziert wird: "Einerseits soll eine Verfahrensförderungspflicht normiert werden, andererseits wird eine zeitliche Begrenzung des Berücksichtigungsgebots neuer Tatsachen, Beweise und Anträge im Falle einer durchgeführten mündlichen Verhandlung mit deren Schließung iSd § 277 Abs. 4 BAO vorgesehen" (ErläutRV 1534 BlgNR 27. GP 3).


7

ZB Sutter/Urtz, Die mündliche Verhandlung im Beschwerdeverfahren vor den Verwaltungsgerichten nach der BAO sowie im Verfahren vor dem VwGH, in Koran/Moser (Hrsg), Die BAO im Zentrum der Finanzverwaltung, FS Ritz (2015) 309 (324 f).


8

So auch ausdrücklich die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 1534 BlgNR 27. GP 36); siehe oben.


9

Zuständigkeitsübergang und Entscheidungspflicht ergeben sich systematisch auch aus den Regelungen über die Vorlageerinnerung in § 264 Abs 6 BAO.


10

So zB auch Ritz, BAO - Bundesabgabenordnung Kommentar7 (2021) § 183 Rz 2.


11

ZB Deutsch, Anforderungen an Beweisanträge, BFGjournal 2022, 34 (35).


12

Siehe zum Ganzen zB Ritz, BAO7 § 183 Rz 2 ff.


13

ZB VwGH 27. 2. 2001, 97/13/0091; Deutsch, BFGjournal 2022, 35.



15

ZB Ritz, BAO7 § 183 Rz 5a; Stoll, BAO-Kommentar II (1994) 1896 (die Verschleppungsabsicht muss als einziger Grund verbleiben, somit "offenbar" sein); Tanzer in Althuber/Tanzer/Unger, BAO Handbuch (2016) § 183, 495.


16

Vgl zB VwGH 25. 3. 1992, 91/13/0043: Hier betont der VwGH, dass die Revisionswerberin "ihre Verschleppungsabsicht zu[gibt], weil im Vortäuschen eines unrichtigen bzw. Verschweigen des tatsächlichen Grundes [für eine Fristverlängerung] eine Verschleppung des Verfahrens zu erblicken ist". Offenbar ist für den VwGH das Zugeständnis der subjektiven Absicht entscheidend gewesen.


17

Vgl zB VwGH 19. 2. 1985, 84/14/0112, zu einem erst nach Jahren erstatteten neuen Vorbringen und einem diesbezüglichen Antrag auf Zeugeneinvernahme.



19

"Während der auch für das abgabenbehördliche Verfahren geltende Ablehnungstatbestand der Verschleppungsabsicht eine mitunter schwierige Feststellung der subjektiven Tatseite erfordert […], liegt ein Verstoß gegen die Verfahrensförderungspflicht iSd § 270 Abs. 2 BAO (bereits) dann vor, wenn aus objektiver Sicht keine sachlichen Gründe dafür vorliegen […]" (ErläutRV 1534 BlgNR 27 GP 36; Hervorhebungen nicht im Original).


20

Vgl dazu Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3 § 276 Anm 6 (Stand 1. 9. 2014, rdb.at); Ritz, BAO7 § 277 Rz 5.


21

Die Bestimmung des § 277 Abs 4 gilt wegen § 274 Abs 5 BAO nicht nur für das Senatsverfahren, sondern auch für das Verfahren vor dem Einzelrichter.


22

Althuber/Tanzer/Unger, BAO Handbuch (2016) § 277, 773; Ritz, BAO7 § 277 Rz 4; vgl auch Eigentler, Beratung und Abstimmung - § 277 BAO, in Schuh/Macho/Kerstinger (Hrsg), Handbuch der Praxis der steuerlichen Betriebsprüfung (36. Lfg Juni 2020), Abschn 3.4.


23

Vgl idS VwGH 21. 1. 2020, Ra 2019/16/0221; Ritz, BAO7 § 277 Rz 4.


24

Siehe insb VwGH 17. 6. 2020, E 370/2020; dazu Ritz, BAO7 § 277 Rz 4a.


25

Hier kann auf § 193 ZPO verwiesen werden, wonach "für die Erklärung der Schließung der Verhandlung kein bestimmter Wortlaut erforderlich [ist]. Der Schluss der Verhandlung wird daher schon dadurch ausreichend deutlich erklärt sein, wenn der Richter […] erklärt, das Urteil verkünden oder die Entscheidung […] der schriftlichen Ausfertigung vorbehalten zu wollen": so Höllwerth in Fasching/Konecny, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen II/33 § 193 ZPO Rz 2 (Stand 1. 10. 2015, rdb.at).


26

Vgl in diesem Zusammenhang auch § 193 ZPO, wonach die "Schließung" der mündlichen Verhandlung ebenfalls als prozessleitende Verfügung nicht selbstständig anfechtbar ist; dazu zB Höllwerth in Fasching/Konecny II/33 § 193 ZPO Rz 40.


27

Vgl zum Ganzen, allerdings noch vor Schaffung der neuen Rechtslage zur Verwaltungsgerichtsbarkeit ab 2014, zB VwGH 2. 2. 2000, 97/13/0187 (unter Hinweis auf VwGH 21. 5. 1990, 89/15/0115) sowie VwGH 29. 9. 2004, 99/13/0111; weiters zB Deutsch, BFGjournal 2022, 34 ("Darüber hinaus hat eine Bedachtnahme im Erkenntnis in Bezug auf alle neuen Tatsachen, Beweismittel oder Beweisanträge zu erfolgen, die bis zur Wirksamkeit der Entscheidung durch die Parteien vorgebracht werden.").


28

ZB Lenneis/Unger, Mögliche legistische Änderungen der BAO - Drei Anregungen des Rechnungshofes im Detail, AVR 4/2021, 114 (115).


29

Zur Verletzung von Verfahrensvorschriften infolge Wesentlichkeit des Verfahrensfehlers gem § 42 Abs 2 Z 3 lit c VwGG siehe auch Urtz, Die Aufhebungsgründe im Revisionsverfahren, in Holoubek/Lang (Hrsg), Das Verfahren vor dem VwGH (2015) 167 ff.


30

Eine weitere mündliche Verhandlung kann auch in dem Fall durchgeführt werden oder sogar geboten sein, in dem es sich um eine sog "fortgesetztes Verfahren" nach durchgeführter Revision vor dem VwGH und Aufhebung des früheren Erkenntnisses infolge dieser Revision handelt. Dann kann, bspw wenn im Revisionsverfahren Feststellungsmängel erfolgreich gerügt wurden und somit im fortgesetzten Verfahren ein weiterer Ermittlungs- und Erörterungsbedarf gegeben ist, zur Wahrung eines umfassenden Parteiengehörs auch die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung geboten sein (zB VwGH 17. 3. 2021, Ra 2020/15/0113). Wie die untenstehende Rechtsprechung zeigt (siehe die folgende FN), kann eine weitere mündliche Verhandlung aber auch - ohne dass es sich um ein "fortgesetztes Verfahren" handelt - vor dem Verwaltungsgericht stattfinden bzw sogar geboten sein.


31

Vgl zB Eigentler, Beratung und Abstimmung - § 277 BAO, in Schuh/Macho/Kerstinger (Hrsg), Handbuch der Praxis der steuerlichen Betriebsprüfung (36. Lfg Juni 2020) Abschn 3.4.


32

VwGH 14. 2. 1978, 2691/76 unter Hinweis auf Reeger-Stoll5, 439, und die dort zitierte Rechtsprechung, sowie auf VwGH 27. 10. 1970, 1865/68. Vgl ebenso zB VwGH 17. 9. 1990, 89/15/0070; 11. 9. 1997, 95/15/0132; 3. 8. 2000, 97/15/0190; 28. 5. 2008, 2005/15/0167.





36

Leeb, Schluss der mündlichen Verhandlung neu, ZVG 2019, 106 (107).


37

Dazu Wiederin, Der Schluss des Ermittlungsverfahrens, ecolex 1999, 370 (370 ff).


38

ErläutRV 193 BlgNR 26. GP 1 und 4; Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 43 (Stand 1. 4. 2021, rdb.at).



40

Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 43.


41

ErläutRV 193 BlgNR 26. GP 4 und Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 43.


42

Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 44.


43

Vgl Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 44.


44

ErläutRV 193 BlgNR 26. GP 3 und Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 45.


45

So Wiederin, ecolex 1999, 371, zu BGBl I 1998/58, wonach schon die nicht auszuschließende Möglichkeit eines anderen Verfahrensergebnisses genügt.


46

Leeb, ZVG 2019, 110; Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 46.


47

Vgl zB Leeb, ZVG 2019, 110.


48

Leeb, ZVG 2019, 110; Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 46.


49

Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 47.


50

Dazu zB Leeb, ZVG 2019, 110; Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 47.



52

Leeb, ZVG 2019, 112 f.


53

Zum Ganzen Hengstschläger/Leeb, AVG § 39 Rz 48.



55

Unger zitiert an dieser Stelle Fischer, Der Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte in Praxis und Theorie, ZVG 2017, 50 (58); Horvath, Der Schluss des Ermittlungsverfahrens gemäß § 39 Abs. 3 AVG, in Clemens/András/Lando/Otto/Ewald, Scharfsinn im Recht, FS Thaler (2019) 247 (259); Leeb, Schluss des Ermittlungsverfahrens neu, ZVG 2019, 106; Wiederin, Der Schluss des Ermittlungsverfahrens, ecolex 1999, 370. Siehe zu dieser Literatur die folgenden FN.


56

Unger, AbgÄG 2022 - Verfahrens- und organisationsrechtliche Auswirkungen für das BFG, AVR 4/2022, 137 (140).


57

Siehe zum vorgeschlagenen Text des § 270 BAO (hier zitiert: § 270 Abs 4 BAO) sowie zum Ganzen Lenneis/Unger, AVR 4/2021, 114 f.



59

Höllwerth in Fasching/Konecny II/33 § 193 ZPO Rz 44 ff (insb Rz 44 und 48).


60

So zB Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3 § 270 Anm 3.


61

Siehe nochmals Lenneis/Unger, AVR 4/2021, 114 f, und Abschn I.C.2.b.


62

Urtz in Holoubek/Lang (Hrsg), Das Verfahren vor dem VwGH 173 mwN in FN 239.


63

Dazu zB Urtz in Holoubek/Lang 173 ff.


64

So im Ergebnis ähnlich, allerdings ohne nähere Begründung, Rzeszut/Capek/Turpin, Regierungsvorlage zum Abgabenänderungsgesetz 2022 - viele Neuerungen in der BAO, SWK 18/2002, 770 (775): "Die Zurückweisung von Beweisanträgen aufgrund einer Verletzung der Verfahrensförderungspflicht wird uE nur in Ausnahmefällen bei vom Abgabepflichtigen verschuldeten Verfahrensverzögerungen greifen können, …".


65

Demgegenüber musste nach der alten Rechtslage die subjektive Verschleppungsabsicht durch das Verwaltungsgericht festgestellt werden, was in der Praxis mit Schwierigkeiten verbunden war; vgl dazu Abschn I.C.1.a.


66

Das AbgÄG 2022, BGBl I 2022/108, wurde am 19. 7. 2022 im BGBl veröffentlicht.


67

Unger, AVR 4/2022, 140.


Artikel-Nr.
ÖStZ 2023/11

31.01.2023
Heft 1-2/2023
Autor/in
Philipp Loser

MMMag. Dr. Philipp Loser, BA BEd ist ehemaliger Assistent im Finanzrecht (Fachbereich Öffentliches Recht) an der Universität Salzburg.

Christoph Urtz

Univ.-Prof. MMag. Dr. Christoph Urtz, LL.M. LL.M. (U.S. Law) ist Professor (Lehrstuhlinhaber) für Finanzrecht an der Universität Salzburg und Rechtsanwalt. Er berät in den Bereichen nationales und internationales Unternehmens- und Konzernsteuerrecht, Besteuerung von Immobilien und Besteuerung von private clients; er vertritt in Verfahren vor den Abgabenbehörden, vor dem Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshof sowie in Finanzstrafverfahren.