RdW Wirtschaftsrecht

Barrierefreiheit für Produkte und Dienstleistungen mit Schwerpunkt digitaler Bereich

Sebastian Hinterdorfer / Luca Mischensky, Wien

In einer inklusiven Gesellschaft besteht ein hoher Bedarf an barrierefreien Angeboten, um insb Menschen mit Behinderungen oder anderen Einschränkungen eine gleichberechtigte Teilnahme zu ermöglichen. Und dieser Bedarf wird in den nächsten Jahren wohl auch noch weiter steigen. Bislang war dieser Bedarf aber angebotsseitig oft mit hohen Kosten verbunden, die ua durch unterschiedliche nationale Rechtsvorschriften verursacht wurden. Die EU nahm dies zum Anlass, mit einer Richtlinie, dem sogenannten European Accessibility Act (EAA),1 gegenzusteuern und den Binnenmarkt für bestimmte Produkte und Dienstleistungen zur Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe insb im digitalen Bereich zu harmonisieren. Der EAA wurde in Österreich mittlerweile auch mit dem Barrierefreiheitsgesetz (BaFG)2 umgesetzt, wenngleich dieses planmäßig erst Mitte 2025 (teilweise) wirksam wird, weil der EAA eine mehrjährige, gestaffelte Übergangsphase vorsieht. Aufgrund der maßgeblichen praktischen Relevanz der neu eingeführten Barrierefreiheitsanforderungen - sowohl für die davon Profitierenden als auch für die dadurch in die Pflicht genommenen Wirtschaftsakteure - soll im vorliegenden Beitrag ein Überblick über wesentliche Regelungsinhalte geboten werden. Dabei wird auf einzelne, besonders relevant erscheinende Schwerpunkte näher eingegangen.3

1. Umsetzungsmodalitäten des EAA

Hinsichtlich der Struktur und des Inhalts folgt das BaFG weitgehend wortgleich dem EAA.4 Die konkrete (kompetenzrechtliche) Umsetzung in einem einzelnen Bundesgesetz ergibt sich aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber dem EAA nur solchen Materien zuordnet, die in Gesetzgebung und Vollziehung gem Art 10 B-VG ausschließlich dem Bund obliegen.5 Diese Einschätzung erscheint auf den ersten Blick auch zumindest schlüssig, weshalb landesgesetzliche Vorschriften zur Umsetzung nicht erforderlich sein dürften.

Korrespondierend dazu besteht für den Vollzug des BaFG ein sogenannter "One-Stop-Shop": Es wird eine zentrale unmittelbare Bundesvollziehung durch das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Sozialministeriumservice) als dem Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) nachgeordnete Bundesbehörde eingerichtet.6 Das erscheint auch nicht beanstandungswürdig, zumal die vom BaFG betroffenen Kompetenztatbestände aufgrund deren Nennung in Art 102 Abs 2 B-VG einer unmittelbaren Vollziehung durch Bundesbehörden zugänglich sind.7 Infolge dieser Konzentration ist es auch nur konsequent, das BVwG als Rechtsmittelinstanz zu benennen (§ 31 BaFG).

2. Inkrafttreten und Anwendbarkeit

Das BaFG tritt mit 28. Juni 2025 in Kraft und gilt für danach in Verkehr gebrachte Produkte bzw erbrachte Dienstleistungen (§ 37 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 und 2 BaFG). "Inverkehrbringen" ist gem § 3 Z 12 BaFG die "erstmalige Bereitstellung eines Produkts am Unionsmarkt". Dabei ist auf das konkrete individuelle Produkt abzustellen, nicht auf Produktserien.8 Praktisch relevant erscheint dabei vor allem, dass bereits im Umlauf befindliche Produkte nicht angepasst werden müssen. Für Dienstleistungen ist demgegenüber ab dem Inkrafttretensdatum unmittelbar die Konformität herzustellen. Die konkrete Umsetzung dieser Verpflichtung wird aber durch verschiedene Übergangszeiträume etwas abgefedert:

Dienstleistungserbringern wird in § 37 Abs 2 BaFG eine fünfjährige Frist bis 28. Juni 2030 eingeräumt, ihre Dienstleistungen unter Einsatz von vor dem 28. Juni 2025 rechtmäßig eingesetzten Produkten erbringen zu dürfen. Dies ermöglicht eine befristete Weiterverwendung und einen geregelten Austausch.

Abweichend zu anderen Produkten dürfen vor dem 28. Juni 2025 verwendete Selbstbedienungsterminals gem § 37 Abs 3 BaFG entweder bis 20 Jahre nach ihrer Ingebrauchnahme oder längstens bis 28. Juni 2040 eingesetzt werden. Im BaFG wurde auf Basis der Ermächtigung von Art 32 Abs 2 EAA damit zusätzlich eine absolute Grenze eingezogen.9 In der damit verbundenen Nichtausschöpfung des (zeitlichen) Maximalrahmens könnte ein Fall von Übererfüllung (sogenanntes "Gold Plating") vorliegen, weil damit der Spielraum der Verpflichteten eingeschränkt wird.10

Dienstleistungsverträge mit Abschlusszeitpunkt vor dem 28. Juni 2025 dürfen gem § 37 Abs 2 BaFG bis zu ihrem Ablauf, allerdings maximal bis 28. Juni 2030, unverändert fortbestehen. Zum Stichtag besteht eine Anpassungs- oder Auflösungspflicht.11

3. Barrierefreiheitsanforderungen

Im Sinne des Design-für-alle-Konzepts soll durch die Barrierefreiheitsanforderungen eine unmittelbare Zugänglichkeit von bestimmten Produkten und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung erreicht werden.12 Dazu werden die Barrierefreiheitsanforderungen in Form allgemeiner Kriterien in Anlage 1 des BaFG definiert.

Vom Anwendungsbereich des BaFG erfasste Produkte (dazu gleich in Abschnitt 4.) sind so zu gestalten und herzustellen, dass ihre vorhersehbare Nutzung durch Menschen mit Behinderungen maximiert wird, und sie sind möglichst in oder auf dem Produkt selbst mit barrierefrei zugänglichen Informationen zu ihrer Funktionsweise und ihren Barrierefreiheitsfunktionen auszustatten (Anlage 1 1. und 2. Abschnitt BaFG). Im Allgemeinen müssen daher zB Informationen zur Nutzung eines Produkts (Kennzeichnung, Gebrauchsanleitung und Warnhinweise) auf dem Produkt selbst über mehr als einen sensorischen Kanal zur Verfügung gestellt sowie in einer verständlichen Weise, mit angemessener Schriftgröße, ausreichendem Kontrast und anpassbarem Abstand zwischen den Buchstaben, Zeilen und Absätzen dargestellt werden (Anlage 1 Z 1 lit a BaFG). Vergleichbares gilt für Anleitungen eines Produkts, die nicht selbst auf dem Produkt angegeben sind, sondern zB auf Websites (Anlage 1 Z 1 lit b BaFG). Im Besonderen gelten auch noch branchenspezifische Anforderungen (Anlage 1 Z 2 lit o BaFG), wonach etwa E-Book-Lesegeräte mit Text-to-Speech-Technologie ausgestattet sein müssen (Anlage 1 Z 2 lit o sublit bb BaFG).

Vom Anwendungsbereich des BaFG erfasste Dienstleistungen sind etwa dann im Allgemeinen barrierefrei (Anlage 1 3. Abschnitt BaFG), wenn sie bspw über mehr als einen sensorischen Kanal bereitgestellt werden (sublit aa), in verständlicher Weise dargestellt werden (sublit bb), den Nutzern und Nutzerinnen auf eine Weise dargestellt werden, die sie wahrnehmen können (sublit cc), der Informationsinhalt in Textformaten zur Verfügung gestellt wird, die sich zum Generieren alternativer assistiver Formate eignen, die von Nutzern in unterschiedlicher Form dargestellt werden und über mehr als einen sensorischen Kanal wahrgenommen werden können (sublit dd) oder in einer Schriftart mit angemessener Schriftgröße und geeigneter Schriftform unter Berücksichtigung der vorhersehbaren Nutzungsbedingungen und mit ausreichendem Kontrast sowie anpassbarem Abstand zwischen den Buchstaben, Zeilen und Absätzen dargestellt werden (sublit ee). Zudem gibt es auch zusätzliche Anforderungen für bestimmte Dienstleistungen (Anlage 1 4. Abschnitt BaFG). So muss zB bei elektronischen Kommunikationsdiensten (lit a) eine Bereitstellung von Text in Echtzeit zusätzlich zur Sprachkommunikation verfügbar sein (sublit aa) oder bei Diensten, die den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten ermöglichen, die Bereitstellung elektronischer Programmführer (Electronic Programme Guides - EPGs) erfolgen, die wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sind sowie Informationen über die Verfügbarkeit von Barrierefreiheit bereitstellen (lit b sublit aa). Ferner ist in diesem Zusammenhang auch zu gewährleisten, dass die Barrierefreiheitskomponenten (Zugangsdienste) der audiovisuellen Mediendienste - wie Untertitel für gehörlose und schwerhörige Menschen, Audiodeskription, gesprochene Untertitel und Gebärdensprachdolmetschung (sic!) - vollständig, in angemessener Qualität und audio- und videosynchronisiert gesendet werden und den Nutzern und Nutzerinnen ermöglicht wird, ihre Anzeige und Verwendung selbst zu regeln (lit b sublit bb).

Ungeachtet dieser Vorgaben wird aber von spezifischen Detailregelungen abgesehen.13 Dies führt zwar zu einer begrüßenswerten Beweglichkeit des Regelungssystems, gleichzeitig werden Wirtschaftsakteure bei der Selbstbeurteilung der Konformität (§ 9 Abs 2 iVm § 19 BaFG) aufgrund unbestimmter Begriffe aber mit einer gewissen Rechtsunsicherheit konfrontiert. Für eine graduelle Abschwächung dieser Unsicherheit sorgt zumindest die Konformitätsvermutung bei harmonisierten Normen (§ 5 Abs 1 BaFG) bzw technischen Spezifikationen (§ 5 Abs 2 BaFG). Aufgrund des bloßen Vermutungscharakters birgt eine ungeprüfte Berufung auf dieselben letztlich aber ein gewisses Risiko. Daher erscheint eine entsprechend sorgfältige Prüfung durch die betroffenen Wirtschaftsakteure wohl jedenfalls empfehlenswert.14

4. Umfasste Produkte und Dienstleistungen

Der materielle Anwendungsbereich ergibt sich zum einen aus den taxativen Aufzählungen in § 2 Abs 1 BaFG für Produkte und in § 2 Abs 2 BaFG für Dienstleistungen. Diese Aufzählungen sind dabei jeweils zusammen mit den Begriffsdefinitionen des § 3 BaFG zu lesen. Zusammengefasst dient der materielle Anwendungsbereich der Verschaffung des barrierefreien Zugangs zu digitalen Inhalten bzw Diensten, die regelmäßig im Alltag verwendet werden. Weitere Erläuterungen können den Gesetzesmaterialien15 sowie den Erwägungsgründen des EAA entnommen werden.16

Im Produktbereich konzentriert sich das BaFG daher auf relevante Hardware, wie bspw Universalrechner (PCs, Notebooks, Smartphones, Tablets), Selbstbedienungsterminals, bestimmte Verbraucherendgeräte (zB Smart-TVs oder Spielkonsolen) und E-Book-Lesegeräte. Korrespondierend dazu werden (zumindest teils) digital erbrachte Dienstleistungen (darunter Kommunikationsdienste [zB Sprach- und Videotelefonie, SMS-Dienste, Online-Messenger-Dienste wie WhatsApp oder Skype], Zugangsdienste für audiovisuelle Mediendienste, Elemente von Personenverkehrsdiensten [zB Websites, elektronische Tickets, Reiseinformationen], verbraucherbezogene Bankdienstleistungen, E-Books, Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr [zB Online-Verkauf von Produkten und Dienstleistungen]) umfasst. Daraus ergibt sich, dass das BaFG viele verschiedene praktisch bedeutsame Wirtschaftsbereiche betrifft, sowohl aus Konsumenten- als auch aus Unternehmenssicht.

Zum anderen bestehen davon aber spezifische Gegenausnahmen; dies vorwiegend im Dienstleistungsbereich: für Notrufe und Übertragungsdienste zur Bereitstellung von Diensten der Maschine-Maschine-Kommunikation (§ 2 Abs 2 Z 1 BaFG) sowie für Websites und mobile Anwendungen (betreffend Aktualisierungsverpflichtung und Verantwortlichkeit; § 2 Abs 3 BaFG).17

5. Einzelfallbezogene Ausnahmen

Aufgrund der damit verbundenen weitreichenden Verpflichtungen für Wirtschaftsakteure (vgl vor allem §§ 9-16 BaFG) erscheint es durchaus sachgerecht, dass sich diese im Einzelfall und bei Vorliegen gewisser Voraussetzungen auf Ausnahmen von den Barrierefreiheitsanforderungen nach § 4 BaFG für konkrete Produkte und Dienstleistungen berufen können. Dabei lassen sich folgende zwei Fallgruppen unterscheiden:

Erstens besteht eine Ausnahme bei grundlegenden Veränderungen der Wesensmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung (§ 17 BaFG). Solche liegen nach dem Willen des Gesetzgebers dann vor, wenn infolge der Barrierefreiheitsanforderungen der ursprüngliche, intendierte Zweck eines Produkts oder einer Dienstleistung nicht mehr erreicht wird.18

Zweitens kann das Vorliegen einer unverhältnismäßigen Belastung nach den Kriterien der Anlage 4 des BaFG (§ 18 BaFG) ebenfalls eine Ausnahme rechtfertigen. Es kommt dabei nicht automatisch zur Vollausnahme, sondern es ist verpflichtend eine separate Verhältnismäßigkeitsbetrachtung jeder einzelnen Barrierefreiheitsanforderung vorzunehmen.19

Die Ausnahmen sind im Wege der Selbstbeurteilung zu prüfen, das Ergebnis ist entsprechend zu dokumentieren (§ 17 Abs 2 und 3, § 18 Abs 2 und 3 BaFG). Dem Sozialministeriumservice (und ggf anderen Mitgliedstaatsbehörden) sind diesbezüglich Informationen zu übermitteln (§ 17 Abs 4, § 18 Abs 4 BaFG). Diese Informationsbereitstellungsverpflichtung wirft aber zumindest ein paar Fragen auf: Grds sind nach Inkrafttreten des BaFG bei Inverkehrbringen von Produkten bzw Angebot/Erbringung von Dienstleistungen die Anforderungen des BaFG zu erfüllen. Der Zusammenfall von Inkrafttreten und Anwendbarkeit im BaFG könnte bedeuten, dass Wirtschaftsakteure daher mit dem Stichtag des Inkrafttretens die Informationsbereitstellung iSv § 17 Abs 4, § 18 Abs 4 BaFG unmittelbar - und damit ohne Vorlaufzeit - durchführen müssten. Aus praktischer Sicht ist aber fraglich, ob die organisatorischen Voraussetzungen (zB Schnittstellen, Portale, Meldeformulare etc) für eine solche Übermittlung, insb aufseiten der Behörden, zu diesem Zeitpunkt bereits zur Verfügung stehen werden (vgl § 24 BaFG).

6. Grenzüberschreitende Aspekte

Ein zentrales Ziel des EAA ist es, durch Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten einen Beitrag zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes zu leisten, indem insb Barrierefreiheitsanforderungen harmonisiert werden (Art 1 EAA; § 1 BaFG). Daher enthält das BaFG auch entsprechende Koordinierungs- und Kollisionsregelungen:

Dem Bereich der Koordinierung können Regelungen über den freien Warenverkehr, den gegenseitigen Informationsaustausch, die Konsultation und Anerkennung unionaler bzw mitgliedstaatlicher Maßnahmen, Schutzklauselverfahren sowie Konformitätsvermutungen zugeordnet werden.20 Im Zusammenhang mit Kollisionsregelungen ist etwa die Bestimmung über Personenbeförderungsdienste im Luftverkehr gem § 3 Z 28 BaFG zu nennen.

7. Verpflichtungen von Wirtschaftsakteuren

Sämtlichen Wirtschaftsakteuren der Vertriebskette, darunter Herstellern, Importeuren, Bevollmächtigten, Händlern und Dienstleistungserbringern, werden durch das BaFG verschiedenartige Verpflichtungen über Barrierefreiheitsanforderungen ihres Angebots vorgeschrieben (vgl §§ 9-16 BaFG). Primär ordnet § 4 BaFG zunächst allgemein an, dass nur konforme Produkte in Verkehr gebracht bzw Dienstleistungen angeboten oder erbracht werden dürfen. Der daraus konkret erwachsende Verpflichtungsumfang (allgemeine und spezifische Pflichten) hängt aber von der jeweiligen Rolle im Liefer- und Vertriebsprozess ab.

Allgemein sind Wirtschaftsakteure bei Abweichungen zum selbstständigen Ergreifen entsprechender Korrekturmaßnahmen in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich verpflichtet (zB § 9 Abs 8 BaFG). Es gilt eine Beobachtungs- und Aktualisierungsverpflichtung bei Änderungen des Angebots bzw der Barrierefreiheitsanforderungen selbst. Wirtschaftsakteure haben daher entsprechende Systeme und Verfahren zur Aufrechthaltung der Compliance ihres Angebots einzurichten (§ 9 Abs 4, § 14 Abs 3 BaFG). Zur besseren Identifizierbarkeit und letztlich auch Transparenz haben einzelne Wirtschaftsakteure dem Sozialministeriumservice auf dessen Verlangen auch andere Wirtschaftsakteure zu nennen, die in der Vertriebskette unmittelbar vor- oder nachgelagert waren (§ 16 BaFG). Begünstigungen für Kleinstunternehmen finden sich in § 6 BaFG, darunter eine Ausnahme für Dienstleistungen.

Der Verpflichtungskatalog von Herstellern ist naturgemäß der umfangreichste und umfasst gem § 9 BaFG ua Meldungen, Bewertungsverfahren, Kennzeichnung, Dokumentation, Qualitätssicherung, Rückverfolgbarkeit, Sicherheitsinformationen, Korrekturmaßnahmen sowie Informations-/Auskunftserteilung gegenüber Behörden. Als zentrale Verantwortung ist die Durchführung des Konformitätsbewertungsverfahrens und die Prüfung von Ausnahmen im Wege der Selbstbeurteilung hervorzuheben (§ 9 Abs 2 iVm § 19 BaFG). Mit Ausstellung der EU-Konformitätserklärung gelten die Barrierefreiheitsanforderungen nach dem BaFG für das jeweilige Produkt als erfüllt bzw die Inanspruchnahme einer etwaigen Ausnahme als nachgewiesen (§ 19 Abs 1 BaFG); eine entsprechende CE-Kennzeichnung (§ 20 Abs 1 BaFG) ist folglich anzubringen.

Bevollmächtigten können durch Auftrag des Herstellers eigene Verantwortlichkeiten übertragen werden, wobei gewisse Ermächtigungen zwingend einzuräumen sind (§ 10 BaFG).

Importeure treffen nach § 11 BaFG ähnliche Verpflichtungen wie Hersteller, mit Ausnahme jener Verpflichtungen, die Detailinformationen zu Produkten erfordern (zB Konformitätsbewertung, technische Dokumentation; § 11 Abs 2 BaFG).

Händler müssen im Rahmen ihrer Sorgfaltspflicht die angebotenen Produkte überprüfen. Weiters sind Händler zur Mitteilung von Nichtkonformitäten und zur Informationserteilung verpflichtet (§ 12 BaFG).

Bei eigenmächtigen Produktänderungen sowie dem Vertrieb im eigenen Namen/unter eigener Marke gelten Importeure und Händler selbst als Hersteller (§ 13 BaFG).

Für Dienstleistungserbringer bestehen sinngemäße Verpflichtungen hinsichtlich Informationen, Konformität und Korrekturen der durch sie angebotenen bzw erbrachten Dienstleistungen (§ 14 BaFG). Zusätzlich trifft diese eine Informationspflicht gegenüber der Allgemeinheit hinsichtlich der baulichen Umwelt bei Selbstbedienungsterminals (§ 15 BaFG).

8. Begünstigte des BaFG

Die Barrierefreiheitsanforderungen sollen "Menschen mit Behinderung" zugutekommen (§ 3 Z 1 BaFG).21 Im Sinne der Einheitlichkeit der Rechtsordnung wurde die Begriffsdefinition aus § 3 BGStG22 übernommen.

Ohne Bezugnahme auf individuelle Personengruppen werden den Wirtschaftsakteuren nach dem Design-für-alle-Konzept abstrakt Barrierefreiheitsanforderungen (Anlage 1 BaFG) vorgeschrieben. Sämtliche Verbraucher sind zur Rechtsdurchsetzung gem § 35 Abs 1 BaFG berechtigt. Für etwaige weitere Ansprüche könnte die Behinderteneigenschaft aber Voraussetzung sein (siehe Abschnitt 9.2. Private Enforcement).

9. Vollzug

Im EAA wird ein Trend zu einem umfassenden Vollzug von Unionsrecht fortgeführt, der nicht nur auf behördliche Durchsetzung (sogenanntes "Public Enforcement") aufbaut, sondern auch Private miteinbezieht (sogenanntes "Private Enforcement").

9.1. "Public Enforcement"

Das Public Enforcement setzt sich im Wesentlichen aus der Verwaltungspolizei zur Gefahrenabwehr (im BaFG: "Marktüberwachung") und der Sanktionierung von Fehlverhalten über Verwaltungsstrafverfahren zusammen.

9.1.1. Marktüberwachung

Aufgabe der Marktüberwachung ist die Kontrolle der Einhaltung der Bestimmungen des BaFG sowie das Ergreifen von Maßnahmen hinsichtlich des Marktangebots.23 Dabei wird ein engmaschiges Marktüberwachungssystem für Produkte und Dienstleistungen aufgezogen (§§ 21-33 BaFG): § 22 Abs 3 BaFG schreibt zunächst eine amtswegige Prüfpflicht vor, wofür das Sozialministeriumservice mit weitgehenden Befugnissen ausgestattet wird (§ 23 BaFG), darunter die Inbetriebnahme von Produkten, die Inanspruchnahme von Dienstleistungen, Probenziehung, Zutrittsrechte zu Betriebsräumlichkeiten sowie Auskunftsrechte. Die Inanspruchnahme von Ausnahmen ist ebenfalls zu prüfen (§ 24 BaFG). Bei begründeter Annahme eines Verstoßes sind nach § 25 BaFG sodann umfassende Ermittlungen einzuleiten.

Der dem Sozialministeriumservice offenstehende Maßnahmenkatalog ist mehrstufig ausgestaltet: Wirtschaftsakteuren ist im ersten Schritt jeweils binnen angemessener Frist die Möglichkeit zur Herstellung der Konformität über eine formlose Aufforderung einzuräumen (§ 26 Abs 1 Z 1 bzw § 28 Abs 1 Z 1 BaFG).24 Nach Ablauf einer so gesetzten Frist sind bei Untätigkeit gem § 26 Abs 1 Z 2 bzw § 28 Abs 1 Z 2 BaFG im zweiten Schritt durch das Sozialministeriumservice per Bescheid Maßnahmen unter Einräumung einer Zusatzfrist anzuordnen. Als geeignete Maßnahmen werden bei Produkten konkret ein "vom Markt [...] nehmen"25 bzw ein Rückruf sowie bei Dienstleistungen bloß beispielhaft eine Information oder Einstellung des Angebots genannt.

Lediglich für Produkte können unmittelbar nach Fristablauf des bescheidmäßigen Auftrags gem § 26 Abs 4 BaFG vorläufige behördliche Maßnahmen per Bescheid getroffen werden, "um das Produkt vom österreichischen Markt zu nehmen oder zurückzurufen oder die Bereitstellung auf dem österreichischen Markt zu untersagen oder einzuschränken". Mit "Vorläufigkeit" ist der Vorbehalt eines Widerspruchs der Europäischen Kommission nach Detailprüfung auf eigenen oder Einwand eines Mitgliedstaates gem § 26 Abs 4-5 iVm § 27 BaFG (vgl Art 20 Abs 4-5 iVm Art 21 Abs 1 EAA) beschrieben, woraus sich ergeben könnte, dass die Maßnahmen nicht gerechtfertigt sind.

Der im BaFG genannte Rückruf wird im EAA interessanterweise nicht erwähnt. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die Marktüberwachungs-Verordnung (MÜ-VO)26 Vorbildwirkung für die Aufnahme des Rückrufs ins BaFG hatte. Die für anwendbar erklärten Bestimmungen der MÜ-VO (§ 22 Abs 1 iVm Anlage 5 BaFG) enthalten nämlich eine Rückrufanordnung, weshalb die Aufnahme des Rückrufes in das BaFG daher nicht über den Umsetzungsauftrag hinauszugehen scheint.

Wie auch der EAA unterscheidet das BaFG durchwegs zwischen Produkten und Dienstleistungen.27 Hinsichtlich der Marktüberwachung wurden die Regelungen aber kategorieübergreifend großteils angeglichen: So wie der EAA ordnet § 22 Abs 1 iVm Anlage 5 BaFG an, dass für Produkte die allgemeingültigen Bestimmungen der MÜ-VO gelten.28 Eine Angleichung der Marktüberwachung für Dienstleistungen wird dann durch eine schlichte Wiederholung der Bestimmungen der MÜ-VO erreicht.29

9.1.2. Sanktionierung

Zunächst erscheint in verfahrensrechtlicher Hinsicht relevant, dass dem Sozialministeriumservice auch die Zuständigkeit für Verwaltungsstrafverfahren zugewiesen wurde.30 Materiell finden sich in § 36 Abs 1-3 BaFG differenzierte Straftatbestände mit unterschiedlichen Strafrahmen von bis zu 80.000 €, 40.000 € und 16.000 €. Ua werden sowohl nichtkonforme Angebote als auch eine Nichterfüllung von Korrekturmaßnahmen jeweils gesondert sanktioniert. Die konkrete Geldstrafe ist gem § 36 Abs 4 BaFG im Einzelfall zu bemessen. Im Gegensatz zu Art 30 EAA fällt auf, dass § 36 BaFG keine gesonderten Abhilfemaßnahmen im Bereich der Sanktionierung vorsieht. Unter Berücksichtigung der vorhandenen Marktüberwachungsbefugnisse sowie der generellen Befugnisse im VStG (zB Sicherstellung und Beschlagnahme) erscheint dies aber auch entbehrlich.

9.2. "Private Enforcement"

Als praktisch relevante Vorstufe zur Ermöglichung von "Private Enforcement" normiert das BaFG Transparenzerfordernisse gegenüber der Öffentlichkeit (vgl § 22 Abs 4 und 5 sowie § 35 Abs 3 BaFG).

Zudem wird Verbrauchern (§ 35 Abs 1 BaFG) und bestimmten Organisationen (§ 35 Abs 2 BaFG) das durch Art 29 EAA vorgeschriebene Recht auf Anrufung des Sozialministeriumservice eingeräumt. Die Materialien weisen zudem auch auf alternative Streitbeilegungsmöglichkeiten nach anderen Gesetzen hin.31 Grds erscheinen auch weitere Zivilrechtsansprüche denkbar, ua in den Bereichen UWG, Schadenersatz, vorvertragliche Pflichten sowie Gewährleistung.32

10. Verhältnis zu anderen Rechtsvorschriften

Das BaFG regelt das Verhältnis zu Barrierefreiheitsanforderungen im Bereich der Personenverkehrsvorschriften vereinfacht im Sinne des Vorgehens der strengeren Anforderungen (§ 7 BaFG). Barrierefreiheitsanforderungen sind aber auch im öffentlichen Auftragswesen zu beachten (§ 34 Abs 1 BaFG). Für die Beurteilung der Barrierefreiheit nach anderen Gesetzen wird ein Rekurs auf das BaFG als zulässig erklärt (§ 34 Abs 2 BaFG).

11. Zusammenfassung und Ausblick

Eine Vielzahl von Wirtschaftsakteuren muss ihr Angebot demnächst barrierefrei gestalten, wobei der Fokus auf Kommunikations- und Mediendiensten sowie auf dem elektronischen Zahlungsverkehr liegen wird. Dabei sind Wirtschaftsakteure für die Umsetzung im Wege der Selbstbeurteilung überwiegend eigenständig verantwortlich. Naturgemäß besteht damit eine gewisse Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Konformität des eigenen Angebots. Es wird sich allerdings erst zeigen müssen, wie die EU und nationale Behörden praktisch vorgehen und das System bei allfälligen Defiziten ggf fortentwickelt werden kann. Ob die Elemente der Privatrechtsdurchsetzung praktische Auswirkungen haben werden, ist derzeit noch unklar. Es erscheint aber jedenfalls denkbar, dass diese - wie in anderen Rechtsgebieten (zB Kartellrecht) - eine zentrale Rolle einnehmen wird.

1

Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen, ABl L 151/2019, 70-115.


2

Bundesgesetz über Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (Barrierefreiheitsgesetz - BaFG) BGBl I 2023/76.


3

Eine abschließende Analyse sämtlicher Bestimmungen des BaFG ist im gegebenen Rahmen weder intendiert noch möglich.


4

ErläutRV 2046 BlgNR 27. GP 1; die jeweils umgesetzte Bestimmung des EAA wird in den Gesetzesmaterialien entsprechend ausgewiesen.


5

ErläutRV 2046 BlgNR 27. GP 2; konkret werden insb Art 10 Abs 1 Z 2 ("Warenverkehr mit dem Ausland; Zollwesen;"), Art 10 Abs 1 Z 5 ("Geld-, Kredit-, Börse- und Bankwesen"), Art 10 Abs 1 Z 6 ("Zivilrechtswesen; Urheberrecht"), Art 10 Abs 1 Z 8 ("Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrie; Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs"), Art 10 Abs 1 Z 9 ("Verkehrswesen bezüglich der Eisenbahnen und der Luftfahrt sowie der Schifffahrt, soweit diese nicht unter Art. 11 fällt; … Post- und Fernmeldewesen") und Art 10 Abs 1 Z 16 ("Einrichtung der Bundesbehörden und sonstigen Bundesämter") B-VG genannt.


6

Gem § 42 BaFG ist der BMSGPK als Oberbehörde mit der Vollziehung betraut; für die Marktüberwachung erklärt § 21 BaFG das Sozialministeriumservice für zuständig.


7

So auch ausdrücklich ErläutRV 2046 BlgNR 27. GP 16 f, mit zusätzlichem Verweis auf die Kompetenzdeckungsklausel des § 1a Sozialministeriumservicegesetz.


8

Bekanntmachung der Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2022 ("Blue Guide"), ABl C 247/2022, 1-152 (19).


9

ErwGr 101 EAA; der EAA sieht - unabhängig vom Ende der wirtschaftlichen Nutzungsdauer - nur die 20-Jahresfrist nach Ingebrauchnahme als Höchstfrist vor. Durch die absolute Grenze könnte sich bei Ingebrauchnahme kurz vor Inkrafttreten am 28. Juni 2025 eine Verkürzung der Nutzungsdauer von rund fünf Jahren ergeben.


10

Vgl Postl, Deregulierung von Gold Plating, ecolex 2020, 150.



12

ErwGr 50 EAA.


13

ErwGr 23 EAA.


14

So zur deutschen Rechtslage Ruttloff/Wagner/Misztl, Das neue Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: ein Überblick - und wen es betrifft, ESG 2023, 325 (327).



16

ErwGr 25 ff EAA.




19

ErläutRV 2046 BlgNR 27. GP 14 f; ErwGr 66 EEA.


20

Vgl insb §§ 8, 9 Abs 8, § 11 Abs 8, § 12 Abs 8, § 14 Abs 4, § 17 Abs 4, § 18 Abs 4, § 26 Abs 2-7 und § 27 BaFG.


21

§ 3 Z 1 BaFG definiert "Menschen mit Behinderungen" als "Menschen, die langfristige körperliche, psychische, intellektuelle oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe, gleichberechtigt mit anderen, an der Gesellschaft hindern können; als langfristig gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten".


22

Bundesgesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz - BGStG) BGBl I 2005/82 idgF.


23

Vgl § 22 Abs 1 erster Satz BaFG.


24

Vgl § 26 Abs 1 und 4 BaFG für Produkte und § 28 Abs 1 und 2 für Dienstleistungen; ErläutRV 2046 BlgNR 27. GP 19 f.


25

Für die Anordnung, ein Produkt "vom Markt zu nehmen", findet sich weder im EAA noch im BaFG eine Definition. Art 3 Z 23 MÜ-VO definiert die "Rücknahme vom Markt", wobei sich diese Begriffsdefinition mit der "Rücknahme" gem Art 3 Z 27 EAA deckt. Unter Heranziehung anderer Sprachfassungen von Art 2 Z 27 iVm Art 20 Abs 1 UAbs 3 EAA (zB "withdraw the product from the market") sowie von Art 3 Z 22 und 23 MÜ-VO (zB "withdrawal") ergibt sich, dass damit die "Rücknahme" gemeint ist. Auch Art 20 Abs 8 EAA referenziert auf die "Rücknahme".


26

Verordnung (EU) 2019/1020 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten sowie zur Änderung der Richtlinie 2004/42/EG und der Verordnungen (EG) Nr 765/2008 und (EU) Nr 305/2011, ABl L 169/2019, 1-44.


27

Diese Differenzierung besteht, zumal für Dienstleistungen auf Unionsebene - mangels Anwendbarkeit der MÜ-VO - noch keine Marktüberwachung etabliert ist; ErläutRV 2046 BlgNR 27. GP 16.


28

Diese Anordnung ist notwendig, weil der EAA nicht in der taxativen Aufzählung der Harmonisierungsvorschriften in Anhang I MÜ-VO enthalten ist.


29

Eine bloße Wiederholung von Anordnungen der MÜ-VO im BaFG begegnet nach Ansicht des Gesetzgebers keinen unionsrechtlichen Bedenken; ErläutRV 2046 BlgNR 27. GP 16.


30

§ 36 BaFG stellt eine Sonderregelung iSd § 26 VStG dar.



32

Vgl zur deutschen Rechtslage Lomatzsch/Albrecht, Barrierefreiheitsstärkungsgesetz - Produkte und Dienstleistungen spätestens in 2025 neu denken, GWR 2022, 355 (357 f).


Artikel-Nr.
RdW digital exklusiv 2024/51

27.03.2024
Autor/in
Sebastian Hinterdorfer
Mag. iur. Sebastian Hinterdorfer ist als Jurist bei einem international agierenden Großkonzern tätig. Zuvor war er in verschiedenen Wirtschaftskanzleien mit unterschiedlicher Spezialisierung beschäftigt und veröffentlichte Beiträge zu kartellrechtlichen Themen.
Luca Mischensky

RA Dr. Luca Mischensky, LL.M., ist Rechtsanwalt bei Freshfields Bruckhaus Deringer in der Praxisgruppe öffentliches Wirtschaftsrecht und publiziert regelmäßig zu verschiedenen öffentlich-rechtlichen Themen. Zuvor war er Universitätsassistent am Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft der Universität Graz and am Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht der Wirtschaftsuniversität Wien.