News

Verhetzung in Live-Interview – Verantwortung des Medienunternehmens

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

AMD-G: § 30

EMRK: Art 10

Grundsätzlich gehört es zum wesentlichen Aufgabenbild von Massenmedien, in der demokratischen Gesellschaft vertretene Meinungen im öffentlichen Diskurs auch dadurch sichtbar zu machen, dass Personen ihre einschlägige Meinung unmittelbar in den Sendungen eines audiovisuellen Mediendienstes vertreten können. Dies gilt auch für kritische, angriffige oder schockierende Meinungen. Diese sind grds den Personen zuzurechnen und zu verantworten, die sich in entsprechender Weise etwa in einem Interview, einem Live-Gespräch oder einer Diskussionsrunde äußern.

Ein Medienunternehmen trifft eine Verantwortung für derartige Meinungsäußerungen nur in besonderen Konstellationen (die sich von jenen unterscheiden können, in denen das Objektivitätsgebot für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk dessen einschlägige Verantwortung aktualisiert, siehe VfSlg 20.427/2020). Eine solche Konstellation liegt vor, wenn die Meinungsäußerung eines Dritten in einer Sendung in gravierender Weise die in der EMRK garantierten Rechte anderer grundsätzlich in Frage stellt, wie hier also den Tatbestand der Hassrede (Verhetzung) erfüllt, weil zu Hass gegen eine Gruppe aufgrund der ethnischen Herkunft aufgestachelt wird. Es besteht kein Zweifel, dass die Äußerungen des Studiogastes im vorliegenden Fall nach § 30 Abs 2 Z 1 AMD-G zu sanktionieren wären, wenn sie der audiovisuelle Mediendienst in seiner redaktionellen Verantwortung etwa als eigenen Kommentar verbreitet hätte.

Da es aber zu der durch Art 10 Abs 1 EMRK geschützten Medienfreiheit des Medienunternehmens gehört, auch dritte Personen, die derartige Meinungen vertreten, als Teil des Meinungsspektrums der demokratischen Gesellschaft zu Wort kommen zu lassen, ist dem Medienmunternehmen die Äußerung nur dann zuzurechnen, wenn sie ihre redaktionelle Verantwortung nicht in einer Weise wahrnimmt, die das besondere demokratisch-rechtstaatliche und menschenrechtliche Bedrohungspotenzial derartiger Äußerungen (erwartbar) deutlich macht. Diese redaktionelle Verantwortung ist Ausdruck der besonderen Verantwortung der Massenmedien für den öffentlichen Diskurs und Grund für den besonderen Schutz der Massenmedien durch Art 10 EMRK. Sie kann auf unterschiedliche Weise wahrgenommen werden, so etwa, indem entsprechende Interviews im Gesamtkontext einer Sendung entsprechend eingeordnet werden oder indem durch eine entsprechend deutlich werdende Zusammensetzung einer Diskussionsrunde das einschlägige Gefährdungspotential der Meinung eines Diskussionsteilnehmers in anderen Wortmeldungen deutlich gemacht wird.

VfGH 5. 10. 2023, E 1008/2023

Entscheidung

In der vorliegenden Konstellation hatte die bf Partei ausschließlich einen Studiogast zu einem längeren Studiogespräch eingeladen. Der Moderator war also der einzige Gesprächspartner, die Sendung bestand nur aus diesem Gespräch. Der Moderator zielte in der Sendung ausdrücklich darauf ab, dass der Studiogast entsprechende Meinungsäußerungen tätigt, indem er ihn aufforderte, "Klartext zu reden", und ihn auch motivierte, seine herabwürdigenden Äußerungen gegenüber einer bestimmten, anhand von Nationalität bzw Ethnie bestimmten Gruppe von Personen zu wiederholen oder sogar zuzuspitzen (siehe die Frage des Moderators: "[A]bsichtlich? Weil die halt bewusst da vielleicht die Amerikaner und Europäer schädigen wollten, oder einfach, weil das halt Wahnsinnige sind, was Gesundheitskontrollen anbelangt?").

Demgegenüber fiel eine entsprechende Relativierung der Äußerungen des Studiogastes im Hinblick auf das sonstige demokratische Meinungsspektrum und insb den Schutz der besonderes angegriffenen Gruppe durch den Moderator nur sehr verhalten aus (wenn er der Aussage, "Das sind dreckige, schmutzige Leute, die keine Manieren haben" ein "Deiner Meinung nach" nachsetzte), worauf der Studiogast die Herabsetzung in verstärkter Form fortsetzt.

Wenn das BVwG – insb angesichts der Wortmeldungen des Moderators, mit denen er einschlägige Äußerungen des Studiogastes (nochmals) anstieß – davon ausging, dass der Moderator damit in der konkreten Gesprächssituation seine redaktionelle Verantwortung angesichts des Inhaltes der Äußerungen des Studiogastes nicht hinreichend wahrgenommen hat, ist ihm aus verfassungsrechtlicher Perspektive des Art 10 EMRK nicht entgegenzutreten. Besteht aus Gründen der Freiheit der öffentlichen Debatte in einer demokratischen Gesellschaft auch die Freiheit für die bf Partei, Meinungsäußerungen wie hier zu verbreiten, so ist diese Freiheit nach Art 10 Abs 2 EMRK zulässigerweise dahingehend beschränkbar, dass die bf Partei ihre redaktionelle Verantwortung auch entsprechend wahrnimmt. Hat dies die bf Partei im vorliegenden Fall unterlassen, weshalb ihr dadurch im Hinblick auf die Äußerungen des Studiogastes ein Verstoß gegen § 30 Abs 2 Z 1 AMD-G angelastet wurde, stellt dies im Hinblick auf den Schutz ethnischer Gruppen vor massenmedial verbreiteter Hassrede eine notwendige Schranke der Medienfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft dar (siehe in vergleichbarem Zusammenhang EGMR, Jersild, Z 30, 35; 4. 11. 2008, 72.596/01, Balsytė-Lideikienė, Z 79 ff; 24. 2. 2015, 21.830/09, Haldimann, Z 46 f; 15. 10. 2015 [GK], 27.510/08, Perinçek, Z 204 ff mwN; 16. 2. 2021, 12.567/13, Budinova und Chaprazov, Z 90).

Der VfGH hegt auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, dass das BVwG Verstöße gegen § 30 Abs 2 Z 1 AMD-G als "schwerwiegende Verletzung" dieses Gesetzes qualifiziert und eine entsprechende Veröffentlichungspflicht auferlegt (vgl VfGH 23. 6. 2022, E 2977/2021).

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 34720 vom 09.11.2023