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Abschlussprüferin: Internationaler Gerichtsstand der Streitgenossenschaft – kein Rechtsmissbrauch

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

EuGVVO 2012: Art 8

Die Wahl des Gerichtsstands nach Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 (Gerichtsstand der Streitgenossenschaft) ist bei Vorliegen der Voraussetzungen (so enge Beziehung zwischen den Klagen, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um widersprechende Entscheidungen in getrennten Verfahren zu vermeiden) für sich genommen nichts Unredliches oder gar Rechtsmissbräuchliches. Bei mehreren potentiellen Anspruchsgegnern muss ein Kl immer seine(n) Prozessgegner festlegen, wobei er faktische Kriterien (wie verfügbare Beweismittel und Liquidität) sowie rechtliche Kriterien (wie mögliche Gerichtsstände, anwendbares Recht und daraus folgende Anspruchsvoraussetzungen) bedenken wird. Eine dem Kl vorteilhaft scheinende Auswahl der Prozessgegner (und damit eines Gerichtsstands) indiziert ohne besondere Begleitumstände keine Unredlichkeit, geschweige denn Rechtsmissbrauch.

Der kl österreichische Aktionär nimmt – zugleich mit dem Erstbekl, einem in Österreich wohnhaften Aufsichtsratsmitglied einer deutschen Aktiengesellschaft (börsennotierte Finanzdienstleisterin) – als Zweitbekl die in Deutschland ansässige Abschlussprüferin der AG in Anspruch und stützt sich dabei ua auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012. Beide Klagen haben nicht nur ihren Ursprung in der Insolvenz der deutschen börsennotierten Finanzdienstleisterin, sondern der Kl behauptet, dass ihm deshalb ein Schaden entstanden sei, weil die Bekl ihn durch bewusstes und gewolltes Täuschen über kapitalmarktrelevante Tatsachen dazu verleitet hätten, Aktien zu erwerben. Nach den Klagsbehauptungen hätten also beide Bekl gemeinsam durch ihre jeweils – wenn auch aus rechtlichen Gründen unterschiedlichen – Pflichtverletzungen (Unterlassungen von Kontroll- bzw Prüfpflichten) seinen Schaden herbeigeführt (kumulative Kausalität) und würden ihm dafür solidarisch haften. Die Ansprüche des Kl gegen beide Bekl sind auf dasselbe Interesse, nämlich Ersatz des Schadens aus den Aktienkäufen, gerichtet. Zudem stellt sich gegenüber beiden Bekl die (Vor-)Frage, ob die Jahresabschlüsse der Zweitbekl tatsächlich unrichtig waren und nicht zuletzt, welche Investitionsentscheidung der Kl bei Kenntnis aller Umstände getroffen hätte. In Ansehung dieser Tat- und Rechtsfragen besteht die Gefahr von einander widersprechenden Entscheidungen. Dabei schadet es nicht, dass das Ergebnis des Verfahrens für die beiden Bekl unterschiedlich sein kann oder dass der Anspruch gegen die Abschlussprüferin einerseits und gegen den Aufsichtsrat andererseits nach unterschiedlichen nationalen Bestimmungen zu beurteilen sein könnte. Die Inanspruchnahme des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO 2012 erfolgt hier nicht missbräuchlich.

OGH 26. 4. 2024, 4 Ob 220/23s

Entscheidung

Bisherige Rsp

Mit den im Revisionsrekursverfahren allein maßgeblichen Fragen der (internationalen) Zuständigkeit für Klagen von österreichischen Aktionären gegen die zweitbekl Abschlussprüferin hat sich der OGH bereits wiederholt beschäftigt, erstmals in der E 9 Ob 18/22w, RdW 2022/627. Der neunte Senat hat ausführlich und unter Auseinandersetzung mit der Rsp des EuGH sowie Stellungnahmen in der Lit begründet, warum in einer Konstellation wie hier die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts im Verfahren gegenüber der Zweitbekl nach Art 8 Nr 1 EuGVVO gegeben ist.

Dieser Rechtsansicht haben sich – trotz gegenteiliger Meinungen und Kritik der Lit (Pimmer in Zak 2022/43; Oberhammer in ecolex 2022/633; Geroldinger in JBl 2022, 268; sowie Geroldinger, Glosse zu 5 Ob 170/21t , JBl 2022, 184 [186 f]) – weitere Senate angeschlossen (6 Ob 128/22z; 8 Ob 113/22h; 2 Ob 186/23a; 5 Ob 73/23f, Zak 2024/317).

Dabei ist für den nun vorliegenden Fall insb die E 5 Ob 73/23f einschlägig, in der der fünfte Senat – anders als die beiden Vorinstanzen – die internationale Zuständigkeit bejahte, obwohl der Kl die Klage gegen den Erstbekl nur im Versuch erhoben hatte, die Zuständigkeit des Gerichts für die Klage gegen die Zweitbekl zu begründen.

Die Zweitbekl zeigt in diesem Verfahren keine stichhaltigen Gründe auf, von dieser auch vom erk Senat als zutreffend erachteten Rsp abzugehen.

Vorhersehbarkeit für die Bekl

Erwägungsgrund 15 der EuGVVO nennt zwar als Normziel die Vorhersehbarkeit für den Bekl, vor welchem Gericht er verklagt werden kann. Sie ist aber kein eigenes Kriterium neben dem Sachzusammenhang der Klagen, sondern füllt diesen lediglich aus. Das Argument, dass ein Abschlussprüfer nicht damit rechnen müsse, dass er von Aktionären in anderen EU-Mitgliedstaaten geklagt werde, weil dort ein Aufsichtsratsmitglied der von ihm geprüften Gesellschaft seinen Wohnsitz habe, lässt die Besonderheit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft unberücksichtigt (9 Ob 18/22w Rz 22).

Immer, wenn ein Geschädigter zwei oder mehrere Schädiger in einer Klage wegen kumulativer Herbeiführung des Schadens in Anspruch nimmt, ist es für den oder die Mitbekl nie gänzlich vorhersehbar, welche Schädiger der Kl mit seiner Klage belangen und in welchem Staat der (Haupt-)Bekl zum Zeitpunkt der Klageeinbringung seinen (Wohn-)Sitz haben wird. Sehr wohl ist objektiv für einen Schädiger vorhersehbar, dass die Zuständigkeitsvorschrift des Art 8 Nr 1 EuGVVO es einem Geschädigten ermöglicht, bei Vorliegen des erforderlichen Sachzusammenhangs zwischen Klagen gegen mehrere Schädiger die Klage am jeweiligen Gerichtsstand jedes einzelnen Schädigers gegen alle Schädiger einzubringen. Dass der Anspruch gegen die Abschlussprüferin einerseits und gegen den Aufsichtsrat andererseits nach unterschiedlichen nationalen Bestimmungen zu beurteilen sein könnte, spricht nicht gegen die Anwendung des Art 8 Nr 1 EuGVVO im konkreten Fall (5 Ob 73/23f Rz 35).

Entgegen der Beurteilung des Rekursgerichts erfolgt die Inanspruchnahme des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nach Art 8 Nr 1 EuGVVO nicht missbräuchlich.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35687 vom 24.07.2024