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Aufenthaltstitel trotz lange zurückliegenden Mordes?

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

NAG § 11

Die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit iSd § 11 Abs 2 Z 1 NAG ist bei Versagung eines Aufenthaltstitels im Einzelfall zu beurteilen. Die Prüfung ist fallbezogen in Form einer Prognose ausgehend vom Gesamtverhalten des Fremden vorzunehmen.

Auch wenn der Versagungsgrund des § 11 Abs 2 Z 1 NAG vorliegt, kommt dem öffentlichen Interesse nicht jedenfalls ein so großes Gewicht zu, dass die Abwägung unabhängig vom Gewicht des persönlichen Interesses des Fremden immer zu dessen Lasten ausgehen müsste; schließlich hat der Gesetzgeber für den Fall des Fehlens einer Erteilungsvoraussetzung gem § 11 Abs 2 NAG in § 11 Abs 3 NAG eine Abwägung angeordnet.

Die Auffassung, im Fall eines vorsätzlichen Mordes sei eine positive Prognose nicht möglich, ist in dieser Absolutheit nicht rechtmäßig.

VwGH 17. 11. 2015, Ra 2015/22/0087

Sachverhalt

Mit dem angefochtenen Erkenntnis bestätigte das Verwaltungsgericht Wien die Abweisung des Antrags eines türkischen Staatsangehörigen (Revisionswerber) auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zwecks Familienzusammenführung mit seiner in Österreich lebenden Ehefrau.

Nach den Feststellungen des VwG war der 1956 geborene Revisionswerber wegen eines am 2. 11. 1976 aus dem Motiv der Blutrache begangenen vorsätzlichen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Das VwG zitierte weiters die Stellungnahme des Revisionswerbers, wonach er nach Verbüßung von 10 Jahren Freiheitsstrafe aufgrund guter Führung bedingt entlassen worden sei und keine weiteren Straftaten verübt habe; im Wege einer Amnestie wäre die Reststrafe endgültig nachgesehen worden. Er habe Österreich vor 37 Jahren freiwillig verlassen, seine Familie sei in Österreich verblieben und seine Ehefrau verfüge über eine unbefristete Niederlassungsbewilligung und einen seit langer Zeit ungekündigten Arbeitsplatz. Die gemeinsame Tochter besitze die österreichische Staatsbürgerschaft. Es bestünde kein Grund zur Annahme, dass der Revisionswerber in irgendeiner Form wieder straffällig werde.

Rechtlich ging das VwG zwar davon aus, dass die Frage der Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit (§ 11 Abs 2 Z 1 iVm Abs 4 Z 1 NAG) nicht im Wege einer „Sippenhaftung“, sondern fallbezogen in Form einer Prognose ausgehend vom Gesamtverhalten für jede Person eigenständig zu prüfen sei. Es führte jedoch auch wörtlich aus: „Eine positive Prognose ist im Fall eines vorsätzlichen Mordes für die Beurteilung nach § 11 Abs 4 NAG nicht möglich.“

Außerdem stützte sich das VwG darauf, dass der Revisionswerber vorgebracht habe, das Thema der Blutrache sei außerhalb seines Geburtslandes ein etwas problematisches, weil viele die türkischen Gepflogenheiten und Mentalität nicht verstehen können. Nach Ansicht des VwG steht Blutrache jedoch den öffentlichen Interessen entgegen und gefährdet die öffentliche Ordnung und Sicherheit, weil sie gegen die Wertvorstellungen eines europäischen, demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichtet ist und auch dem Rechts- und Gewaltmonopol eines demokratischen Staates völlig widerspricht.

Das angefochtene Erkenntnis wurde vom VwGH wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Entscheidung

Auch nach Ansicht des VwGH kann die vom Revisionswerber versuchte Relativierung seines Verbrechens keinesfalls das öffentliche Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels verringern.

Das VwG lässt jedoch aufgrund seines Rechtsirrtums betreffend die Prognosebeurteilung bei vorsätzlichem Mord vollkommen unberücksichtigt, dass die Straftat bereits im Jahr 1976 verübt worden ist, der Revisionswerber behauptetermaßen nach 10 Jahren Freiheitsstrafe wegen guter Führung entlassen wurde und keine weitere Straftat begangen hat. Unter Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falles sei daher nicht auszuschließen, dass nach einem derart langen Zeitablauf nunmehr eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch den Revisionswerber verneint werden kann. Damit erweise sich der Rechtsirrtum des VwG als relevant.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 20932 vom 19.01.2016