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EGMR: Entscheidungen betr Österreich im 1. Quartal 2016

Bearbeiter: Barbara Tuma

Im 1. Quartal 2016 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte überfolgende Beschwerden entschieden, die gegen die Republik Österreich gerichtet waren:

Importance Level 2:

EGMR 16. 2. 2016, 8895/10, Ärztekammer für Wien und Dorner v. Austria (Unterlassungsverpflichtung nach § 7 UWG als Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit?)

Keine Verletzung von Art 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit):

Der Ärztekammer Wien und deren Präsidenten war nach Veröffentlichung eines Artikels zu einer angeblich geplanten Übernahme von Arztpraxen durch einen „Heuschreckenfonds“ (Veröffentlichung auf der Webseite und in einer E-Mail an alle Mitglieder der Kammer) wegen der Herabsetzung des Unternehmens durch Verwendung des Begriffs „Heuschrecke“ eine entsprechende Unterlassungsverpflichtung gem § 7 UWG auferlegt worden (zum Sicherungsverfahren siehe OGH 22. 1. 2008, 4 Ob 236/07w, LN Rechtsnews 4821 vom 11. 4. 2008 = RdW 2008/363; Entscheidung im Hauptverfahren: OGH 14. 7. 2009, 4 Ob 22/09b, RdW 2010/158). In ihrer Beschwerde beim EGMR machen sie dies als Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit geltend.

Nach eingehender Auseinandersetzung mit Art 34 EMRK lehnt der EGMR die Beschwerde der Ärztekammer als unzulässig ab: Bei Veröffentlichung des Artikels habe die Ärztekammer offensichtlich in Ausübung ihrer öffentlichen Funktionen gehandelt, weshalb sie keine Individualbeschwerde nach Art 34 EMRK erheben könne.

Dem Präsidenten der Ärztekammer hingegen erkannte der EGMR ein entsprechendes Beschwerderecht zu, weil die Unterlassungsverpflichtung auch an ihn selbst als Privatperson gerichtet war.

Allerdings lag nach Ansicht des EGMR keine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit vor: Auch der EGMR hält im konkreten Fall die Bezeichnung als „Heuschrecke“ für eine besonders schwerwiegende Anschuldigung – va iZm medizinischen Leistungen wie hier –, die auch nicht als wahr erwiesen wurde. Die Unterlassungsverpflichtung war auch nach Auffassung des EGMR ausreichend begründet und die Vorgehensweise der Gerichte durchaus moderat (keine Strafe; Urteilsveröffentlichung nur auf der Webseite der Kammer und im gedruckten Newsletter).

Importance Level 3:

EGMR 12. 1. 2016, 55495/08, Genner v. Austria (Strafrechtliche Verurteilung wegen übler Nachrede nach einem Artikel zum Tod der Innenministerin auf der Website von „Asyl in Not“)

Keine Verletzung von Art 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit):

Einen Tag nach dem plötzlichen Tod der Innenministerin hatte der Bf auf der Website der Organisation „Asyl in Not“ einen Artikel veröffentlicht, in dem er ua schrieb: „Die gute Meldung zum Jahresbeginn: L.P., Bundesministerin für Folter und Deportation, ist tot.". Weiters bezeichnete er die Innenministerin als „Schreibtischtäterin“ und nahm auf das nationalsozialistische Regime Bezug. Über Privatanklage des Witwers der Ministerin wurde der Bf in 2. Instanz wegen Übler Nachrede gem § 111 iVm § 117 StGB verurteilt und sein Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens wurde vom OGH abgewiesen. Durch diese Verurteilung sah sich der Bf in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt.

Wie auch die österr. Gerichte geht der EGMR in seinen Entscheidungsgründen davon aus, dass es sich bei den Äußerungen zwar um einen Beitrag zu einer politischen Debatte von öffentlichem Interesse handelt (kurz zuvor waren das FPG 2005 und das AsylG 2005 geschaffen worden), um ein politisches Werturteil und bei einer Ministerin um eine Person des öffentlichen Interesses. Abgesehen davon, dass der Bf die Angelegenheit in diesem Artikel jedoch nicht in objektiver Weise diskutiert, sondern eine persönliche Attacke auf die verstorbene Ministerin geführt hat, misst der EGMR besondere Bedeutung auch dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels zu. Am Tag nach dem Tod der angegriffenen Person Zufriedenheit über deren Tod auszudrücken, widerspreche grundlegendem Anstand und Respekt vor menschlichen Wesen.

Trotz seiner Entschuldigung in einer Tageszeitung wenige Tage nach dem inkriminierten Internet-Artikel beharrt der Bf auch noch vor dem EGMR darauf, dass sein Vergleich der Ministerin mit Nazi-Kriegsverbrechern berechtigt gewesen sei. Selbst wenn man diesen Vergleich als Werturteil ansehen wollte – so der EGMR –, verlangt ein so ernstzunehmender und extrem beleidigender Vergleich so kurz nach dem Tod des Betroffenen eine besonders tragfähige Tatsachengrundlage. Schon die österr. Gerichte hatten aber – nach eingehender Auseinandersetzung mit den Argumenten des Bf – sein Vorbringen dazu als nicht ausreichend erachtet, dass die Ministerin entsprechende Charakterzüge im Laufe des Gesetzgebungsvefahrens zum AsylG 2005 gezeigt habe (das in einigen Bestimmungen klare Menschenrechtsverletzungen enthalte) sowie in einem TV-Interview anlässlich der strafrechtlichen Verurteilung von vier Polizisten wegen Folterung eines Schubhäftlings. Auch weiteres Beweismaterial zur politischen Situation in Österreich und zur Ansicht anderer Vertreter von NGOs über die laufende Verschlechterung der Situation von Flüchtlingen in Österreich konnte den EGMR nicht von einem entsprechenden Tatsachenkern der inkriminierten Äußerungen überzeugen.

Auch die – zur Hälfte bedingt nachgesehene – Geldstrafe iHv 1.200 € sah der EGMR als nicht unangemessen an.

Die Volltexte aller Entscheidungen sind in Englisch auf der Homepage des EGMR unter www.echr.coe.int/ECHR/ abrufbar.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 21370 vom 01.04.2016