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Erneuerungsantrag auch bei Verletzung von GRC-Grundrechten?

Bearbeiter: Barbara Tuma

EUV Art 4

StPO § 363a

Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen möchte der OGH wissen, ob er aufgrund des Unionsrechts (insb aufgrund der Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität) über Antrag des Betroffenen eine rechtskräftige Entscheidung eines Strafgerichts auch hinsichtlich behaupteter Verletzung von Unionsrecht überprüfen muss (hier: ua Art 50 GRC), auch wenn das nationale Recht (§ 363a StPO) eine solche Überprüfung nur hinsichtlich behaupteter Verletzungen der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle vorsieht.

OGH 23. 1. 2017, 13 Os 49/16d

Entscheidung

Durchsetzung von Unionsrecht

Gemäß dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz darf durch die Ausgestaltung gerichtlicher Verfahren die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden, wobei der EuGH auch ausdrücklich festgestellt hat, dass bei der Anwendung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes jeder Fall unter Berücksichtigung der Stellung der betreffenden Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist und gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen sind, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen (zB Schutz der Verteidigungsrechte, Grundsatz der Rechtssicherheit).

Außerdem verlangt der Grundsatz effektiven gerichtlichen Schutzes nach der Rsp des EuGH nicht, dass es in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats einen eigenständigen Rechtsbehelf gibt, der mit dem Hauptantrag auf die Prüfung der Vereinbarkeit nationaler Vorschriften mit dem Unionsrecht gerichtet ist (vgl EuGH 13. 3. 2007, C-432/05, Unibet, LN Rechtsnews 2536 vom 15. 3. 2007).

Erneuerungsantrag auch für Grundrechte nach der GRC?

Zur wirksamen Durchsetzung der Rechte nach der Gemeinschaftsrechtsordnung (zB nach Art 50 GRC) in einem Strafverfahren bietet die österreichische Strafprozessordnung den Betroffenen zahlreiche Möglichkeiten.

Der OGH hegt nun aber Zweifel, wie § 363a StPO betr den Erneuerungsantrag zu verstehen ist:

Der Wortlaut des § 363a StPO sieht eine Erneuerung des Strafverfahrens durch den OGH vor, wenn in einem Urteil des EGMR eine Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes festgestellt wurde.

Seit der Grundsatzentscheidung OGH 1. 8. 2007, 13 Os 135/06m, LN Rechtsnews 3347 vom 14. 8. 2007, verlangt die Rsp für eine Erneuerung des Strafverfahrens nicht mehr zwingend ein Erkenntnis des EGMR; vielmehr kann auch eine vom OGH selbst festgestellte Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle dazu führen. Der EGMR hat diese Rsp-Linie des OGH ausdrücklich anerkannt und die Erneuerungsmöglichkeit gem § 363a StPO als „effective remedy“ iSd Art 35 Abs 1 EMRK eingestuft (vgl EGMR 6. 10. 2015, 58842/98, ATV Privatfernseh-GmbH gegen Österreich).

Der Anwendungsbereich des § 363a StPO wurde also durch die inzwischen stRsp des OGH ausgedehnt und der OGH gewährt anstelle des EGMR (also nicht aufgrund eines seiner Erkenntnisse) jedem eine wirksame Beschwerde, der vorbringt, in einem Konventionsrecht verletzt worden zu sein. Von diesem Rechtsbehelf wurde seit der Grundsatzentscheidung 13 Os 135/06m zunehmend und auch erfolgreich Gebrauch gemacht.

Aus dem Kreis der Grundrechte kann daher eine Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle im Rahmen eines österreichischen Strafverfahrens durch einen Antrag nach § 363a StPO auch ohne Vorliegen einer Entscheidung des EGMR direkt beim OGH gerügt werden, nicht jedoch eine Verletzung anderer Grundrechtsschutznormen (wobei allerdings der Großteil der - innerstaatlichen wie unionsrechtlichen - Grundrechte auch von der EMRK und ihren Zusatzprotokollen erfasst wird).

Im gegebenen Zusammenhang könnte daher nun die Auffassung vertreten werden, dass es die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität verlangen, § 363a StPO über seinen Wortlaut hinaus auch auf Fälle anzuwenden, in denen eine Verletzung von Grundrechten vorgebracht wird, die aus dem Unionsrecht erwachsen. Für eine solche Sicht könnte angeführt werden, dass es sich bei den Vorbringen der Verletzung in einem Konventionsrecht bzw in einem Grundrecht nach der GRC um einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund handelt und dass die Grundrechte nach der GRC zumindest jene Reichweite haben wie die Grundrechte nach der EMRK (Homogenität: Art 52 Abs 3 GRC).

Allerdings könnte einer solchen Auffassung insb auch entgegengehalten werden, dass § 363a StPO in seinem von der Rsp erweiterten Anwendungsbereich dazu dient, unter Vorwegnahme der meritorischen Entscheidung des EGMR eine solche gleich umzusetzen und die EMRK diesem Gerichtshof eine Überprüfung nur hinsichtlich behaupteter Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle einräumt (Art 34 EMRK).

Daher ersucht der OGH nun den EuGH um eine diesbezügliche Klarstellung der Rechtslage.

Vorlagefrage

Ist das Unionsrecht, insb Art 4 Abs 3 EUV iZm den daraus abgeleiteten Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität, dahin auszulegen, dass es den OGH verpflichtet, über Antrag eines Betroffenen die Überprüfung einer rechtskräftigen Entscheidung eines Strafgerichts hinsichtlich behaupteter Verletzung von Unionsrecht (hier: Art 50 GRC, Art 54 SDÜ*) vorzunehmen, wenn das nationale Recht (§ 363a StPO) eine solche Überprüfung nur hinsichtlich behaupteter Verletzung der EMRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle vorsieht?

* Anmerkung: Art 50 der Charta der Grundrechte der EU (GRC) und Art 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) beziehen sich auf das Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 23769 vom 26.06.2017