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EuGH: Anerkennung als Flüchtling wegen Bürgerkrieg

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

RL 2011/95/EU : Art 2, Art 4, Art 9, Art 10, Art 100, Art 12

Nach Art 9 Abs 2 Buchstabe e RL 2011/95/EU [über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz ...] müssen die Verfolgungshandlungen, denen der Asylwerber nach seinen Angaben ausgesetzt ist, aus seiner Verweigerung des Militärdienstes resultieren, und diese Verweigerung muss das einzige Mittel darstellen, das es dem Betroffenen erlaubt, der Beteiligung an Kriegsverbrechen iSv Art 12 Abs 2 Buchstabe a RL 2011/95/EU zu entgehen.

Wenn die Möglichkeit, den Militärdienst zu verweigern, vom Recht des Herkunftsstaats nicht vorgesehen ist und es dementsprechend kein Verfahren zu diesem Zweck gibt, kann vom Kriegsdienstverweigerer nicht verlangt werden, dass er seine Verweigerung in einem bestimmten Verfahren formalisiert. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass diese Verweigerung nach dem Recht des Herkunftsstaats rechtswidrig ist und verfolgt und bestraft wird, kann von ihm weiters vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sie vor der Militärverwaltung zum Ausdruck gebracht hat.

Allerdings reichen diese Umstände nicht für den Nachweis aus, dass der Betroffene den Militärdienst tatsächlich verweigert hat. Nach Art 4 Abs 3 Buchst a, b und c RL 2011/95/EU ist dies – wie die anderen zur Stützung des Antrags auf internationalen Schutz vorgebrachten Anhaltspunkte – unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen betr das Herkunftsland zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag, der maßgeblichen Angaben des Antragstellers und der von ihm vorgelegten Unterlagen sowie seiner individuellen Lage und seiner persönlichen Umstände zu prüfen.

Im vorliegenden Fall herrscht im Herkunftsstaat des Asylwerbers (Syrien) ein Bürgerkrieg, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen iSv Art 12 Abs 2 dieser RL durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist. Für einen Wehrpflichtigen, der seinen Militärdienst in einem solchem Kontext verweigert, würde die Ableistung des Militärdienstes unabhängig vom Einsatzgebiet unmittelbar oder mittelbar die Beteiligung an solchen Verbrechen oder Handlungen umfassen.

Allerdings muss eine Verknüpfung zwischen der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes und zumindest einem der Verfolgungsgründe bestehen, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen können. Es spricht eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den Voraussetzungen des Art 9 Abs 2 Buchstabe e dieser RL mit einem der fünf Gründe des Art 10 der RL in Zusammenhang steht. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen.

EuGH 19. 11. 2020, C-238/19, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge () und asile)

Zu einem deutschen Vorabentscheidungsersuchen.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

1.Art 9 Abs 2 Buchst e der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. 12. 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass er es, wenn das Recht des Herkunftsstaats die Möglichkeit der Verweigerung des Militärdienstes nicht vorsieht, nicht verwehrt, diese Verweigerung in dem Fall festzustellen, in dem der Betroffene seine Verweigerung nicht in einem bestimmten Verfahren formalisiert hat und aus seinem Herkunftsland geflohen ist, ohne sich der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen.
2.Art 9 Abs 2 Buchst e der RL 2011/95 ist dahin auszulegen, dass für einen Wehrpflichtigen, der seinen Militärdienst in einem Konflikt verweigert, seinen künftigen militärischen Einsatzbereich aber nicht kennt, die Ableistung des Militärdienstes in einem Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen iSv Art 12 Abs 2 dieser RL durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, unabhängig vom Einsatzgebiet unmittelbar oder mittelbar die Beteiligung an solchen Verbrechen oder Handlungen umfassen würde.
3.Art 9 Abs 3 der RL 2011/95 ist dahin auszulegen, dass zwischen den in ihrem Art 10 genannten Gründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung iSv Art 9 Abs 2 Buchst e dieser RL eine Verknüpfung bestehen muss.
4.Art 9 Abs 2 Buchst e iVm Art 9 Abs 3 der RL 2011/95 ist dahin auszulegen, dass das Bestehen einer Verknüpfung zwischen den in Art 2 Buchst d und Art 10 dieser RL genannten Gründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung iSv Art 9 Abs 2 Buchst e dieser RL nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden kann, weil Strafverfolgung oder Bestrafung an diese Verweigerung anknüpfen. Allerdings spricht eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art 9 Abs 2 Buchst e dieser RL genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art 10 dieser RL aufgezählten Gründe in Zusammenhang steht. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen.
Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 29979 vom 24.11.2020