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EuGH: Asyl bei Verfolgung wegen politischer Überzeugung

Bearbeiter: Sabine Kriwanek

RL 2011/95/EU: Art 4, Art 9, Art 10

Die „politische Überzeugung“ ist im Einklang mit Art 1 Abschnitt A Nr 2 Abs 1 der Genfer Konvention einer der fünf in Art 10 der RL 2011/95/EU [über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; Status-RL bzw AnerkennungsRL] aufgezählten „Verfolgungsgründe“.

Damit die Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung eines Antragstellers, der die nachteilige Aufmerksamkeit potenzieller Verfolger in seinem Herkunftsland noch nicht erweckt hat, unter den Begriff „politische Überzeugung“ fallen kann, reicht es aus, dass der Antragsteller geltend macht, er bringe diese Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zum Ausdruck oder habe sie zum Ausdruck gebracht. Dies greift der Bewertung, ob die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung wegen dieser politischen Überzeugung begründet ist, nicht vor.

Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten müssen eine umfassende und eingehende Prüfung aller relevanten Umstände betreffend die besonderen persönlichen Umstände dieses Antragstellers und der allgemeineren Gegebenheiten seines Herkunftslands, insb der politischen, rechtlichen, justiziellen, historischen und soziokulturellen Aspekte, vornehmen müssen, um zu ermitteln, ob der Antragsteller begründete Furcht vor einer persönlichen Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung hat, insb wegen der Überzeugung, die ihm die potenziellen Verfolger in seinem Herkunftsland zuschreiben könnten.

Vor diesem Hintergrund stellen das Maß der vom Antragsteller geltend gemachten politischen Überzeugung und die etwaige Ausübung von Aktivitäten zur Förderung dieser Überzeugung Merkmale dar, die für die individuelle Prüfung seines Antrags gem Art 4 Abs 3 Status-RL bzw AnerkennungsRL relevant sind. Diese Merkmale kommen nämlich bei der Beurteilung des Risikos, dass diese die nachteilige Aufmerksamkeit potenzieller Verfolger im Herkunftsland des Antragstellers möglicherweise erweckt haben oder erwecken können und dass der Antragsteller bei der Rückkehr in dieses Land verfolgt werden könnte, in Betracht.

Der Umstand, dass ein Antragsteller aufgrund seiner politischen Überzeugung, die er geäußert hat, oder der Aktivitäten, die er möglicherweise während seines Aufenthalts im Herkunftsland oder seit seiner Ausreise aus diesem Land ausgeübt hat, um diese Überzeugung zu fördern, bereits die nachteilige Aufmerksamkeit potenzieller Verfolger in diesem Land erweckt hat, ist ebenfalls ein relevanter Gesichtspunkt bei der von Art 4 Abs 3 der RL 2011/95 vorgeschriebenen individuellen Prüfung.

Daraus folgt, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten in dem Fall, dass der Antragsteller behauptet, er bringe eine seit seiner Ausreise aus dem Herkunftsland erworbene Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zum Ausdruck oder habe das getan, ohne nachzuweisen, dass er die nachteilige Aufmerksamkeit potenzieller Verfolger in diesem Land erweckt hat, die bei einer Rückkehr in dieses Land zu Verfolgungshandlungen führen könnte, bei der individuellen Prüfung des Antrags, zu der sie verpflichtet sind, ua das Maß der Überzeugung der vom Antragsteller geltend gemachten politischen Überzeugung und die etwaige Ausübung von Aktivitäten zur Förderung dieser Überzeugung durch den Antragsteller berücksichtigen müssen. Diese Behörden können aber nicht verlangen, dass diese politische Überzeugung bei dem Antragsteller so tief verwurzelt ist, dass er bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland nicht davon absehen könnte, sie zu äußern, um nicht die nachteilige Aufmerksamkeit der potenziellen Verfolger in diesem Land zu erwecken, die sie zu Verfolgungshandlungen iSv Art 9 Status-RL bzw AnerkennungsRL führen könnte.

EuGH 21. 9. 2023, C-151/22, Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Opinions politiques dans l’État membre d’accueil)

Zu einem niederländischen Vorabentscheidungsersuchen.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 34535 vom 25.09.2023