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EuGH: Asylwerber ohne Wohnsitz – Rechtsmittelfrist

Bearbeiter: Barbara Tuma

RL 2013/32/EU: Art 46

Nach belgischem Recht beginnt die 10-tägige Rechtsmittelfrist für eine Beschwerde gegen die Zurückweisung eines Folgeantrags auf internationalen Schutz ab der Notifizierung dieses Beschlusses am Sitz der nationalen Behörde, die für die Prüfung dieser Anträge zuständig ist, wenn der betreffende Antragsteller in diesem Mitgliedstaat keinen Wohnsitz bestimmt hat. Auch bei Auslegung von Art 46 der RL 2013/32/EU [zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes] (VerfahrensRL) im Licht von Art 47 GRC hat der EuGH unter folgenden Voraussetzungen keine Bedenken gegen diese belgische Regelung:

-Die Antragsteller müssen davon unterrichtet werden, dass für die Zwecke der Notifizierung des Beschlusses über ihren Antrag von einem Wohnsitz am Sitz der nationalen Behörde ausgegangen wird, wenn sie keinen Wohnsitz bestimmt haben.
-Die Bedingungen für den Zugang der Antragsteller zum Sitz der Behörde dürfen die Entgegennahme der Beschlüsse nicht übermäßig erschweren.
-Es muss gewährleistet sein, dass sie innerhalb einer solchen Frist die Verfahrensgarantien des Unionsrechts für Asylwerber effektiv in Anspruch nehmen können.
-Der Äquivalenzgrundsatz muss gewahrt sein.

Ob die belgische Regelung diesen Anforderungen entspricht, muss das nationale Gericht im Ausgangsverfahren prüfen.

EuGH 9. 9. 2020, C-651/19, Commissaire général aux réfugiés und aux apatrides

Ausgangsfall

Zu einem belgischen Vorabentscheidungsersuchen.

Nachdem ein erster Asylantrag abgelehnt worden war, stellte der Kl des Ausgangsverfahrens einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, der mit Beschluss des Generalkommissars vom 18. 5. 2018 für unzulässig erklärt wurde. Da der Kl in Belgien keinen Wohnsitz bestimmt hatte, wurde ihm dieser Beschluss in Anwendung des nationalen Rechts per Einschreiben am Sitz des Generalkommissariats für Flüchtlinge und Staatenlose notifiziert.

Nach belgischem Recht begann die 10-tägige Rechtsmittelfrist am dritten Werktag nach Übermittlung des Schreibens an die Postdienste zu laufen (hier am Freitag, dem 25. 5. 2018). Da die Frist an einem Sonntag ablief, wurde sie bis Montag, den 4. 6. 2018, verlängert.

Der Kl erschien am 30. 5. 2018 am Sitz des Generalkommissars und bestätigte an diesem Tag den Empfang des Einschreibens. Beschwerde gegen den Beschluss legte er allerdings erst am 7. 6. 2018 ein, weshalb die Beschwerde als verspätet zurückgewiesen wurde. Dagegen richtet sich seine Kassationsbeschwerde.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

Art 46 der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 6. 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist im Licht von Art 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats, nach der für die Beschwerde gegen einen Beschluss, mit dem ein Folgeantrag auf internationalen Schutz für unzulässig erklärt wird, eine Ausschlussfrist von zehn Tagen unter Einbeziehung von Feiertagen und arbeitsfreien Tagen gilt, die ab der Notifizierung dieses Beschlusses läuft, auch dann, wenn eine solche Notifizierung am Sitz der für die Prüfung dieser Anträge zuständigen nationalen Behörde erfolgt, weil der betreffende Antragsteller in diesem Mitgliedstaat keinen Wohnsitz bestimmt hat, nicht entgegensteht, sofern diese Antragsteller erstens davon unterrichtet werden, dass in ihrem Fall, wenn sie für die Zwecke der Notifizierung des ihren Antrag betreffenden Beschlusses keinen Wohnsitz bestimmt haben, davon ausgegangen wird, dass sie ihren Wohnsitz für diese Zwecke am Sitz der fraglichen nationalen Behörde bestimmt haben, zweitens die Bedingungen für ihren Zugang zu diesem Sitz die Entgegennahme der sie betreffenden Beschlüsse nicht übermäßig erschweren, drittens gewährleistet ist, dass sie innerhalb einer solchen Frist die für Personen, die internationalen Schutz beantragen, im Unionsrecht vorgesehenen Verfahrensgarantien effektiv in Anspruch nehmen können, und viertens der Äquivalenzgrundsatz gewahrt ist. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung diesen Anforderungen entspricht.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 29670 vom 16.09.2020