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EuGH: Aufenthaltsrecht drittstaatsangehöriger Elternteile?

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

AEUV Art 20

Ein Drittstaatsangehöriger kann als Elternteil eines minderjährigen Kindes, das die Unionsbürgerschaft besitzt, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in der EU geltend machen, wenn sich das Kind ansonsten gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm damit die Möglichkeit genommen würde, den Kernbestand seiner Rechte nach Art 20 AEUV tatsächlich in Anspruch zu nehmen.

Bei dieser Beurteilung ist zwar der Umstand von Bedeutung, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen. Dieser Umstand allein genügt aber nicht für die Feststellung, dass zwischen dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass sich das Kind bei Verweigerung des Aufenthaltsrechts für den drittstaatsangehörigen Elternteil gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Einer solchen Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls zugrunde liegen, so insb das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, der Grad seiner affektiven Bindung sowohl zu beiden Elternteilen und das Risiko, das mit der Trennung vom drittstaatsangehörigen Elternteil für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre.

EuGH 10. 5. 2017, C-133/15, Chavez-Vilchez ua

Sachverhalt

Zu einem niederländischem Vorabentscheidungsersuchen.

Die acht Ausgangsverfahren betreffen Anträge auf Sozialhilfe und auf Kindergeld, die bei den zuständigen niederländischen Behörden von Müttern mit Drittstaatsangehörigkeit gestellt wurden. Die Kinder haben jeweils niederländische Staatsangehörigkeit und wurden von ihren Vätern (niederländische Staatsangehörige) anerkannt, leben aber hauptsächlich oder ausschließlich bei der Mutter.

In allen Fällen wurden die Anträge mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Mütter nach niederländischem Recht keinen Anspruch auf die beantragten Leistungen haben, weil sie keine Aufenthaltsberechtigung besitzen.

Neben den angeführten Ähnlichkeiten weisen die Fälle auch Unterschiede auf, die das sorgerechtliche Verhältnis und die Beiträge zum Kindesunterhalt, die aufenthaltsrechtliche Lage der Mütter und die Lage der minderjährigen Kinder selbst betreffen. Anders als die Kinder von Frau Chavez-Vilchez haben die Kinder der anderen sieben Frauen auch niemals von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht, weil sie seit ihrer Geburt immer in den Niederlanden lebten.

Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die Rechtsmittelführerinnen ein Aufenthaltsrecht aus Art 20 AEUV herleiten und damit die Voraussetzung des rechtmäßigen Aufenthalts in den Niederlanden für Sozialhilfe und Kindergeld erfüllen können.

Entscheidung

Anwendbares Recht

Auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen der Form nach auf die Auslegung von Art 20 AEUV beschränkt hat, hindert dies den EuGH nicht daran, dem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die diesem bei seiner Entscheidung von Nutzen sein können. Der EuGH weist daher darauf hin, dass die Lage von Frau Chavez-Vilchez selbst und ihres Kindes, das von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat (Verlegung des Wohnsitzes von einem anderen Mitgliedstaat in die Niederlande), grds im Hinblick auf Art 21 AEUV und die RL 2004/38/EG zu beurteilen ist.

Die Lage der übrigen sieben Kinder, die stets bei ihrer Mutter in den Niederlanden gelebt haben, sowie die Lage dieser Rechtsmittelführerinnen selbst ist unter dem Blickwinkel des Art 20 AEUV zu beurteilen. Auch die Lage von Frau Chavez-Vilchez wäre im Licht von Art 20 AEUV zu prüfen, wenn das vorlegenden Gericht bei der Prüfung nach der RL 2004/38/EG (insb ihren Art 5 bis 7) zur Ansicht gelangt, dass die dort genannten Voraussetzungen für Einreise und Aufenthalt nicht erfüllt waren und Frau Chavez-Vilchez auf der Grundlage von Art 21 AEUV und der RL 2004/38 daher kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht geltend machen konnte.

Prüfung nach Art 20 AEUV

Zu Art 20 AEUV hat der EuGH bereits entschieden, dass nationale Maßnahmen (einschließlich Entscheidungen), mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, nicht dazu führen dürfen, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte verwehrt wird, die ihnen ihr Status verleiht (vgl EuGH 8. 3. 2011, Ruiz Zambrano, C-34/09, EU:C:2011:124, Rn 42, und euGH 6. 12. 2012, O  ua, C-356/11 und C-357/11, EU:C:2012:776, Rn 45).

Zur Beurteilung des Risikos, dass sich das betroffene Kind mit Unionsbürgerschaft gezwungen sähe, das Unionsgebiet zu verlassen, ist in jedem der Ausgangsverfahren zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit besteht. Dabei haben die zuständigen Behörden das Recht auf Achtung des Familienlebens (Art 7 GRC) und das in Art 24 Abs 2 GRC anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen.

Dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, genügt allein aber noch nicht für eine Verweigerung des Aufenthaltsrechts für den drittstaatsangehörigen Elternteil.

Beweislast

Da die nationalen Behörden darauf achten müssen, dass die Anwendung einer nationalen Beweislastregelung (wie hier) nicht geeignet ist, die praktische Wirksamkeit von Art 20 AEUV zu beeinträchtigen, entbindet eine nationale Beweislastregelung die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats nicht davon, auf der Grundlage der vom Drittstaatsangehörigen beigebrachten Informationen die erforderlichen Ermittlungen anzustellen, um festzustellen, wo der diesem Mitgliedstaat angehörende Elternteil wohnt, ob er wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, und ob zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit ein solches Abhängigkeitsverhältnis besteht, dass das Kind das Gebiet der Union als Ganzes verlassen müsste.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

1.Art 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass für die Beurteilung der Frage, ob sich ein Kind, das Bürger der Europäischen Union ist, gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm damit die Möglichkeit genommen würde, den Kernbestand seiner aus diesem Artikel folgenden Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen, wenn seinem Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, ein Aufenthaltsrecht im fraglichen Mitgliedstaat verweigert würde, der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, einen Gesichtspunkt von Bedeutung bildet, der aber allein nicht für die Feststellung genügt, dass zwischen dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass sich das Kind bei der Verweigerung dieses Aufenthaltsrechts hierzu gezwungen sähe. Einer solchen Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls zugrunde liegen, so insb des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und des Risikos, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre.
2.Art 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, das Recht zum Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zugunsten eines Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines minderjährigen Kindes ist, das die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und für das der Drittstaatsangehörige täglich und tatsächlich sorgt, von der Verpflichtung dieses Drittstaatsangehörigen abhängig zu machen, die Informationen beizubringen, anhand deren festgestellt werden kann, dass eine Entscheidung, mit der dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit das Aufenthaltsrecht versagt würde, dem Kind die Möglichkeit nähme, den Kernbestand der aus dem Unionsbürgerstatus folgenden Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen, weil sie es dazu zwänge, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Jedoch haben die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats auf der Grundlage der von dem Drittstaatsangehörigen beigebrachten Informationen die erforderlichen Ermittlungen anzustellen, um im Licht aller Umstände des Einzelfalls beurteilen zu können, ob eine Entscheidung, mit der das Aufenthaltsrecht versagt wird, solche Folgen hätte.
Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 23553 vom 11.05.2017