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*Ergebnis einer Umfrage unter 225 Steuerberater:innen und Rechtsanwält:innen (Mai 2024) durchgeführt von IPSOS im Auftrag von LexisNexis Österreich.
Beantragen die Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund des „EU-USA-Auslieferungsakommens“ die Auslieferung eines Unionsbürgers eines anderen EU-Mitgliedstaats, darf der ersuchte Mitgliedstaat eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten insofern unterschiedlich behandeln, als er auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm eigene Staatsangehörige nicht ausliefert, die Auslieferung des Staatsangehörigen des anderen Mitgliedstaats aber gestattet, wenn der ersuchte Mitgliedstaat zuvor den zuständigen Behörden des Herkunftsmitgliedstaats des Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt hat, ihn im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls für sich zu beanspruchen, und der Herkunftsmitgliedstaat keine entsprechende Maßnahme ergriffen hat.
EuGH 10. 4. 2018, C-191/16, Pisciotti
Zu einem deutschen Vorabentscheidungsersuchen.
Entscheidung
Einschränkung der Freizügigkeit
Art 17 des EU-USA-Abkommens erlaubt zwar grundsätzlich, dass ein Mitgliedstaat entweder auf der Grundlage eines bilateralen Abkommens oder auf der Grundlage seines Verfassungsrechts seinen eigenen Staatsangehörigen einen Sonderstatus einräumt, indem er ihre Auslieferung verbietet. Diese Befugnis muss aber im Einklang mit dem Primärrecht ausgeübt werden, insb gem den Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Gleichbehandlung und die Freizügigkeit von Unionsbürgern.
Dass eine solche Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedstaats und Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten die Freizügigkeit der Unionsbürger beeinträchtigen können, hat der EuGH bereits ausgesprochen (vgl EuGH 6. 9. 2016, C-182/15, Petruhhin, Rechtsnews 22275). Ebenso hat der EuGH aber auch klargestellt, dass eine solche Beschränkung der Freizügigkeit iSv Art 21 AEUV auf objektiven Erwägungen beruhen und in angemessenem Verhältnis zu dem legitimerweise verfolgten Zweck stehen kann (vgl ua EuGH 12. 5. 2011, C-391/09, Runevič-Vardyn und Wardyn, Rechtsnews 11070) und dass es – im Kontext eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen iSv Art 3 Abs 2 EUV – ein legitimes Ziel ist, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Straftäter straflos bleiben (vgl in diesem Sinne EuGH C-182/15, Petruhhin, Rn 36 und 37 sowie die dort angeführte Rsp).
Vorrang für Europäischen Haftbefehl
Da Maßnahmen, durch die eine Grundfreiheit eingeschränkt wird, können weiters nur dann durch objektive Erwägungen gerechtfertigt werden, wenn sie erforderlich sind und das legitime Ziel nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreicht werden kann.
Dazu stellt sich im vorliegenden Fall die Frage, ob der ersuchte Mitgliedstaat (Deutschland) in Bezug auf Herrn Pisciotti über eine Handlungsmöglichkeit verfügt hätte, die weniger stark in die Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit eingegriffen hätte, indem sie in Erwägung gezogen hätte, ihn seinem Herkunftsmitgliedstaat (Italien) zu übergeben, statt ihn an die USA auszuliefern.
In der Rs C-182/15, Petruhhin, Rechtsnews 22275, hat der EuGH bereits entschieden, dass dem Informationsaustausch mit dem Herkunftsmitgliedstaat der Vorzug gegeben werden muss, um den Behörden dieses Mitgliedstaats gegebenenfalls die Möglichkeit zu geben, einen Europäischen Haftbefehl zu Verfolgungszwecken zu erlassen. Der ersuchte Mitgliedstaat muss daher im Fall eines Auslieferungsersuchens eines Drittstaats, mit dem er ein Auslieferungsabkommen geschlossen hat, den Mitgliedstaat informieren, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, und muss ihm gegebenenfalls auf sein Ersuchen im Einklang mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 den Unionsbürger übergeben, sofern dieser Mitgliedstaat nach seinem nationalen Recht für die Verfolgung dieser Person wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig ist.
Obwohl diese Lösung – wie aus Rn 46 des Urteils Petruhhin hervorgeht – in einem Zusammenhang ohne internationales Abkommen zwischen der Union und dem betroffenen Drittstaat entwickelt wurde, ist sie auch auf die vorliegende Situation anwendbar, in der das EU–USA-Abkommen dem ersuchten Mitgliedstaat die Befugnis überträgt, seine eigenen Staatsangehörigen nicht auszuliefern.
Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen einiger Regierungen in Frage gestellt, wonach die Priorisierung eines Übergabeersuchens aufgrund eines Europäischen Haftbefehls gegenüber einem Auslieferungsersuchen der USA letztlich die Regel in Art 10 Abs 2 und 3 des EU–USA-Abkommens wirkungslos werden ließe, wonach die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats bei einem solchen Zusammentreffen den Staat bestimmt, an den die Person auf der Grundlage aller relevanten Faktoren übergeben wird.
Die dargestellte Zusammenarbeit, bei der dem Europäischen Haftbefehl Vorrang eingeräumt wird, um weniger stark in die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit einzugreifen, erweist sich nämlich nicht zwangsläufig als ein Hindernis für das Ersuchen auf Auslieferung an einen Drittstaat. Denn im Einklang mit dem Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass ein Straftäter straflos bleibt, muss der Europäische Haftbefehl des anderen Mitgliedstaats zumindest denselben Sachverhalt betreffen und der Ausstellungsmitgliedstaat muss – wie aus Rn 50 des Urteils Petruhhin hervorgeht – nach seinem Recht für die Verfolgung dieser Person wegen dieser Taten zuständig sein, selbst wenn sie außerhalb seines Hoheitsgebiets begangen worden sind.
Auch im vorliegenden Fall ist den Verfahrensunterlagen zu entnehmen, dass die konsularischen Behörden der Italienischen Republik über die Situation von Herrn Pisciotti vor dem Vollzug des Auslieferungsersuchens informiert worden sind, ohne dass die italienischen Justizbehörden einen Europäischen Haftbefehl gegen diese Person erlassen hätten.
Der EuGH hat für Recht erkannt:
1. | Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Unionsbürger, gegen den sich ein Ersuchen auf Auslieferung in die Vereinigten Staaten von Amerika richtete, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen seiner Staatsangehörigkeit zum Zwecke des etwaigen Vollzugs dieses Ersuchens festgenommen wurde, die Situation dieses Bürgers in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, sofern dieser Bürger sein Recht auf Freizügigkeit in der Europäischen Union ausgeübt hat und dieses Auslieferungsersuchen im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. 6. 2003 gestellt wurde. |
2. | In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein Unionsbürger, gegen den sich im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. 6. 2003 ein Ersuchen auf Auslieferung in die Vereinigten Staaten von Amerika richtete, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen seiner Staatsangehörigkeit zum Zwecke des etwaigen Vollzugs dieses Ersuchens festgenommen wurde, sind die Art 18 und 21 AEUV dahin auszulegen, dass sie dem ersuchten Mitgliedstaat nicht verwehren, auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich zu behandeln und diese Auslieferung zu gestatten, obwohl er die Auslieferung eigener Staatsangehöriger nicht erlaubt, sofern er vorher den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehöriger dieser Betroffene ist, die Möglichkeit eingeräumt hat, ihn im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls für sich zu beanspruchen, und dieser letztgenannte Mitgliedstaat keine entsprechende Maßnahme ergriffen hat. |