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EuGH: Ausschluss Drittstaatsangehöriger von Sozialermäßigungen

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

RL 2003/109/EG: Art 11

RL 2009/50/EG: Art 14

RL 2011/95/EU: Art 29

RL 2011/98/EU: Art 12

Die sog Familienkarte dient in Italien als „Maßnahme zur Unterstützung für kinderreiche Familien“, indem sie bei Vorweis dieser Karte bei bestimmten Anbietern von Waren oder Dienstleistungen Preisnachlässe oder Tarifermäßigungen erhalten können. Der Staat gewährleistet und finanziert die Ausstellung der Familienkarte und den Abschluss der Vereinbarungen mit interessierten Anbietern, die Anbieter tragen jedoch die Kosten für die Preisnachlässe oder Tarifermäßigungen und nehmen freiwillig an dieser Aktion zugunsten der Familien teil.

Drittstaatsangehörige sind vom Anspruch auf dieses Karte ausgeschlossen. Die Zulässigkeit dieses Ausschlusses wird vom EuGH unter verschiedenen Aspekten differenzierend beurteilt - einige Punkte muss das vorlegende Gericht noch klären:

-Art 12 Abs 1 Buchst e RL 2011/98/EU (Single Permit-RL) und Art 14 Abs 1 Buchst e RL 2009/50/EG (HochqualifiziertenRL) stehen dem Ausschluss der Drittstaatsangehörigen nicht entgegen: Die Familienkarte fällt nämlich nicht in den Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 [zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit] (keine Leistung, die ihrer Art nach ein öffentlicher Beitrag ist, der die Allgemeinheit an den Familienlasten beteiligt).
-Auch Art 11 Abs 1 Buchst d RL 2003/109/EG (DaueraufenthaltsRL) steht einer solchen Regelung nicht entgegen, sofern diese Karte nach dem nationalen Recht nicht unter die Begriffe „soziale Sicherheit“, „Sozialhilfe“ oder „Sozialschutz“ iSd DaueraufenthaltsRL fällt (was das vorlegende Gericht zu prüfen haben wird).
-Art 29 RL 2011/95/EU (StatusRL) dürfte einer solchen Regelung jedoch entgegenstehen: Nach Art 29 StatusRL müssen die Mitgliedstaaten nämlich dafür Sorge tragen, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Sozialleistungen in gleicher Höhe erhalten wie seine eigenen Staatsangehörigen. Nach stRsp bezieht sich dies auf sämtliche Hilfssysteme, die von öffentlichen Stellen auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene eingerichtet wurden und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt. Das vorlegende Gericht wird somit zu prüfen haben, ob die Familienkarte in Anbetracht dieser Definition eine Sozialhilfeleistung iSv Art 29 StatusRL darstellt.
-Da aus dem Akteninhalt, und insb aus den schriftlichen Erklärungen der italienischen Regierung, nicht hervorgeht, dass diese eindeutig zum Ausdruck gebracht hätte, dass sie die Ausnahmen nach Art 11 Abs 2 DaueraufenthaltsRL und Art 12 Abs 2 Buchst d Z i Single Permit-RL in Anspruch nehmen wolle, stehen Art 11 Abs 1 Buchst f DaueraufenthaltsRL, Art 12 Abs 1 Buchst g Single Permit-RL und Art 14 Abs 1 Buchst g HochqualifiziertenRL einer solchen Regelung entgegen: Diese Bestimmungen sehen die Gleichbehandlung der Drittstaatsangehörigen iS dieser Richtlinien mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats in Bezug auf den Zugang zu Waren und Dienstleistungen sowie die Lieferung von Waren und Erbringung von Dienstleistungen für die Öffentlichkeit vor.

EuGH 28. 10. 2021, C-462/20, ASGI ua

Zu einem italienischem Vorabentscheidungsersuchen.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 31661 vom 04.11.2021