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EuGH: Europäischer Haftbefehl - ausstellende Justizbehörden

Bearbeiter: Barbara Tuma

Rahmenbeschlusses 2002/584/JI: Art 1, Art 6, Art 8

Zu vollstrecken ist nur ein Europäischer Haftbefehl, der eine „justizielle Entscheidung“ iSv Art 1 Abs 1 Rahmenbeschluss 2002/584/JI ist; dies setzt voraus, dass er von einer „Justizbehörde“ iSv Art 6 Abs 1 des Rahmenbeschlusses ausgestellt wird. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht nämlich auf der Prämisse, dass im Ausstellungsstaat eine Justizbehörde zur Ausübung justizieller Kontrolle tätig geworden ist. Wird ein Europäischer Haftbefehl hingegen von einer andere Stelle ausgestellt, besteht für die vollstreckende Justizbehörde nicht die Gewissheit, dass die Ausstellung des Haftbefehls einer justiziellen Kontrolle unterlag. Das hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, das die tragende Grundlage des Rahmenbeschlusses ist, wäre in einem solchen Fall nicht gerechtfertigt.

Der Begriff „Justizbehörde“ in Art 6 Abs 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts. Er beschränkt sich nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats, sondern erfasst auch die Behörden, die in der betreffenden Rechtsordnung zur Mitwirkung bei der Rechtspflege berufen sind (Judikative iSd Grundsatzes der Gewaltenteilung), also etwa auch die Staatsanwaltschaft. Auf die Polizeibehörden eines Mitgliedstaats (Exekutive iSd Grundsatzes der Gewaltenteilung) kann der Begriff „Justizbehörde“ allerdings nicht erstreckt werden. Die spezielle Ausgestaltung der Polizeibehörden innerhalb der Exekutive und der Grad ihrer etwaigen Autonomie sind dabei unerheblich.

EuGH 10. 11. 2016, C-452/16 PPU, Poltorak

Zu niederländischen Vorabentscheidungsersuchen.

Entscheidungen

Am 10. 11. 2016 hat der EuGH in mehreren Eilvorabentscheidungsverfahren zu Fragen des Bezirksgerichts Amsterdam zum Europäischen Haftbefehl Stellung genommen:

Schweden und Litauen

In zwei der Verfahren ging es um Europäische Haftbefehle zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen auf Basis strafgerichtlicher Verurteilungen. Der EuGH sprach dabei sowohl den schwedischen Polizeibehörden (C-452/16 PPU) als auch dem litauischen Justizministerium (C-477/16 PPU) die Eigenschaft einer „Justizbehörde“ iSv Art 6 Abs 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI ab.

Auch eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen dieser beiden Urteile lehnte der EuGH ab: Sowohl betr Schweden als auch betr Litauen hat der Rat in der Vergangenheit bereits gerügt, dass die Ausstellung Europäischer Haftbefehle durch die schwedische Polizeibehörde bzw das litauische Justizministerium mit dem Erfordernis der Bestimmung einer „Justizbehörde“ unvereinbar sei (Berichte des Rates vom 21. 10. 2008 bzw vom 14. 12. 2007). Unter diesen Umständen könne nicht davon ausgegangen werden, dass eine „objektive, bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Vorschriften des Unionsrechts“ bestanden hätte, die Schweden bzw Litauen zu einem unsionsrechtswidrigen Verhalten veranlasst hätte.

Ungarn

Im Ausgangsfall des dritten Verfahrens wurde ein türkischer Staatsangehöriger in Ungarn strafrechtlich verfolgt. Der Europäische Haftbefehl basierte auf einem „Haftbefehl der Polizeidienststelle A****, bestätigt durch Entscheidung der Staatsanwaltschaft A****“.

Über Auskunftsersuchen des vorlegenden niederländischen Gerichts teilten die ungarischen Behörden mit, dass die Staatsanwaltschaft in Ungarn von der Exekutive unabhängig sei und während der gesamten Ermittlungsphase darauf zu achten habe, dass die Polizeibehörden das Gesetz befolgten und dass der Verdächtige seine Rechte ausüben könne. Die Staatsanwaltschaft könne Entscheidungen der Polizeibehörde ändern oder aufheben, wenn sie im Widerspruch zum Gesetz oder zum Ziel der Ermittlungen stehen.

Trotz dieser Auskunft hegt das vorlegende Gericht Zweifel daran, ob ein nationaler Haftbefehl als „justizielle Entscheidung“ iSv Art 8 Abs 1 Buchst c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI eingestuft werden kann, wenn er von einer Polizeibehörde erlassen und anschließend von der Staatsanwaltschaft bestätigt wurde.

Dazu stellt der EuGH zunächst klar, dass es im Rahmen von Art 8 Abs 1 Buchst c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI unerheblich ist, dass der nationale Haftbefehl von einer Polizeibehörde erlassen wurde, weil seine Bestätigung durch die Staatsanwaltschaft es gestattet, die Staatsanwaltschaft dem Urheber des Haftbefehls gleichzustellen.

Zur Frage, ob die Entscheidung einer Staatsanwaltschaft unter den Begriff „justizielle Entscheidung“ iSv Art 8 Abs 1 Buchst c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI fällt, hält der EuGH sodann fest, dass die verschiedenen Vorschriften des Rahmenbeschlusses kohärent ausgelegt werden müssen, weshalb die Auslegung zu Art 6 Abs 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI auch auf diese Frage übertragbar sei. Dazu hat der EuGH nun im Urteil C-452/16 PPU ausgesprochen, dass der Begriff „Justizbehörde“ so zu verstehen ist, dass er die an der Strafrechtspflege mitwirkenden Behörden erfasst, unter Ausschluss der Polizeibehörden.

Die Staatsanwaltschaft ist grds eine zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege eines Mitgliedstaats berufene Behörde (vgl in diesem Sinne EuGH 29. 6. 2016, C-486/14, Kossowski, LN Rechtsnews 21888 vom 30. 6. 2016), eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist daher als „justizielle Entscheidung“ iSv Art 8 Abs 1 Buchst c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI anzusehen.

Für den konkreten Fall hält der EuGH auch noch fest, dass aus den Angaben der ungarischen Regierung insoweit auch hervorgeht, dass die Bestätigung des nationalen Haftbefehls durch die Staatsanwaltschaft der vollstreckenden Justizbehörde die Gewissheit verschafft, dass der Europäische Haftbefehl auf einer justiziell überprüften Entscheidung beruht. Eine solche Bestätigung rechtfertigt daher das erforderliche hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

1. betr Polizeibehörden - C-452/16 PPU, Poltorak

Der Begriff „Justizbehörde“ in Art 6 Abs 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. 2. 2009 geänderten Fassung ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts; Art 6 Abs 1 ist dahin auszulegen, dass eine Polizeibehörde wie das Rikspolisstyrelsen (Reichspolizeiamt, Schweden) nicht unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ iS dieser Vorschrift fällt, so dass ein von ihr zur Vollstreckung eines Urteils, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wird, ausgestellter Europäischer Haftbefehl nicht als „justizielle Entscheidung“ iSv Art 1 Abs 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung angesehen werden kann.

2. betr Justizministerium - C-477/16 PPU, Kovalkovas

Der Begriff „Justizbehörde“ in Art 6 Abs 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. 2. 2009 geänderten Fassung ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts; Art 6 Abs 1 ist dahin auszulegen, dass ein Exekutivorgan wie das litauische Justizministerium nicht zur „ausstellenden Justizbehörde“ iS dieser Vorschrift bestimmt werden darf, so dass ein von ihm zur Vollstreckung eines Urteils, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wird, ausgestellter Europäischer Haftbefehl nicht als „justizielle Entscheidung“ iSv Art 1 Abs 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung angesehen werden kann.

3. betr Staatsanwaltschaft - C-453/16 PPU, Özçelik

Art 8 Abs 1 Buchst c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. 2. 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bestätigung eines zuvor von einer Polizeibehörde zur Strafverfolgung erlassenen nationalen Haftbefehls durch die Staatsanwaltschaft eine „justizielle Entscheidung“ iS dieser Vorschrift darstellt.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 22608 vom 14.11.2016