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EuGH: Familienzusammenführung – eigener Aufenthaltstitel für Familienangehörige

Bearbeiter: Sabine Kriwanek

RL 2003/86/EG: Art 2, Art 15, Art 17

1. Art 15 Abs 3 Satz 2 RL 2003/86/EG [betreffend das Recht auf Familienzusammenführung; FamilienzusammenführungsRL] sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Bestimmungen erlassen, nach denen die Ausstellung eines eigenen Aufenthaltstitels gewährleistet ist, wenn „besonders schwierige Umstände“ vorliegen. „Besonders schwierige Umstände“ iSv Art 15 Abs 3 Satz 2 FamilienzusammenführungsRL liegen nur dann vor, wenn der Drittstaatsangehörige, der sich zum Zweck der Familienzusammenführung im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, mit Umständen iZm seiner familiären Situation konfrontiert ist, die ihrer Natur nach einen hohen Grad an Schwere oder Härte aufweisen oder ihn einer großen Unsicherheit oder Verletzlichkeit aussetzen, so dass er tatsächlich Schutz benötigt, der durch die Ausstellung eines eigenen Aufenthaltstitels gewährleistet wird, ohne dass es darauf ankäme, ob die Paarbeziehung zerbrochen ist. Folglich kann die Gewährung eines eigenen Aufenthaltstitels wegen „besonders schwierige[r] Umstände“ iSv Art 15 Abs 3 Satz 2 FamilienzusammenführungsRL nicht schon damit gerechtfertigt werden, dass zu den Familienangehörigen des Zusammenführenden minderjährige Kinder zählen oder dass diese ihren Aufenthaltstitel aufgrund von Umständen verlieren, die in der Person des Zusammenführenden gründen, wie etwa, dass dieser eine Straftat begangen hat.

In Anbetracht der zentralen Bedeutung des Zusammenführenden in dem mit der FamilienzusammenführungsRL geschaffenen System entspricht es den mit dieser RL verfolgten Zielen und der ihr zugrunde liegenden Logik, dass es grundsätzlich Auswirkungen auf das Verfahren der Familienzusammenführung und insb auf die seinen Familienangehörigen erteilten Aufenthaltstitel haben kann, wenn der Zusammenführende seinen Aufenthaltstitel verliert oder dieser nicht verlängert wird.

Da die RL 2003/86 nach ihrem Art 1 die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, zum Ziel hat, ist dieses Recht solchen Staatsangehörigen vorbehalten, was durch die Definition der Begriffe „Zusammenführender“ und „Familienzusammenführung“ in Art 2 Buchst c und d der RL bestätigt wird. Ein Drittstaatsangehöriger, dem der Aufenthaltstitel entzogen wurde, kann indes nicht mehr als jemand angesehen werden, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält. Es ist somit a priori gerechtfertigt, dass die seinen Familienangehörigen auf Grundlage der FamilienzusammenführungsRL erteilten Aufenthaltstitel ebenfalls entzogen werden können bzw deren Verlängerung abgelehnt werden kann, ohne dass sich diese Familienangehörigen auf „besonders schwierige Umstände“ iSv Art 15 Abs 3 Satz 2 der RL berufen könnten, nur weil sie den Grund für die Entziehung nicht zu vertreten haben.

Art 15 Abs 3 Satz 2 FamilienzusammenführungsRL steht somit einer mitgliedstaatlichen Regelung nicht entgegen, in der nicht vorgesehen ist, dass die zuständige nationale Behörde, gestützt auf das Vorliegen „besonders schwierige[r] Umstände“ iS dieser Bestimmung, Familienangehörigen eines Zusammenführenden einen eigenen Aufenthaltstitel gewähren muss, wenn sie ihren Aufenthaltstitel aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen verloren haben oder sich minderjährige Kinder unter ihnen befinden.

2. Die Mitgliedstaaten haben nach dem eindeutigen Wortlaut von Art 17 FamilienzusammenführungsRL im Fall der Ablehnung eines Antrags, dem Entzug oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland zu berücksichtigen. Art 17 FamilienzusammenführungsRL steht einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegen, die es der zuständigen nationalen Behörde gestattet, eine Entscheidung zu erlassen, mit der die Verlängerung des Aufenthaltstitels verweigert wird, der Familienangehörigen eines Zusammenführenden erteilt wurde, ohne zuvor eine individualisierte Prüfung ihrer Situation und eine Anhörung vorgenommen zu haben. Betrifft diese Entscheidung ein minderjähriges Kind, müssen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, damit dieses Kind eine seinem Alter oder seiner Reife entsprechende echte und wirksame Möglichkeit hat, gehört zu werden.

EuGH 12. 9. 2024, C-63/23, Sagrario

Zu einem spanischen Vorabentscheidungsersuchen.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35868 vom 18.09.2024