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EuGH: Grundsatz ne bis in idem - Einstellung ohne Ermittlungen

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

GRC: Art 50

SDÜ: Art 54

Ein Tatverdächtiger kann in einem Schengen-Staat erneut strafrechtlich verfolgt werden, wenn die frühere Strafverfolgung in einem anderen Schengen-Staat ohne eingehende Ermittlungen eingestellt worden ist. Die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen stellt ein Indiz für das Fehlen solcher Ermittlungen dar.

OGH 29. 6. 2016, C-486/14, Kossowski

Zu einem deutschen Vorabentscheidungsersuchen.

Entscheidung

Prüfung der Anschuldigungen erforderlich

Zunächst erinnert der EuGH an die Ziele des Art 54 SDÜ (ne bis in dem): Nach Verurteilung und Verbüßung der Strafe oder gegebenenfalls nach einem endgültigen Freispruch in einem Vertragsstaat, garantiert Art 54 SDÜ dem Betroffenen die Bewegungsfreiheit im Schengen-Gebiet, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Vertragsstaat wegen derselben Tat verfolgt wird. Art 54 SDÜ verfolgt hingegen nicht das Ziel, einen Verdächtigen dagegen zu schützen, dass er möglicherweise wegen derselben Tat in mehreren Vertragsstaaten aufeinanderfolgenden Ermittlungen ausgesetzt ist (EuGH 22. 12. 2008, EU:C:2008:768, Turanský, C-491/07, Rn 44, LN Rechtsnews 6350 vom 9. 1. 2009).

Im vorliegenden Fall verfolgte die polnische Staatsanwaltschaft den Vorwurf der schweren räuberischen Erpressung - ohne eingehendere Ermittlungen bzw Sammlung von Beweismitteln - allein deshalb nicht, weil der Beschuldigte die Aussage verweigerte und der Geschädigte und ein Zeuge vom Hörensagen in Deutschland wohnten, so dass sie im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hätten vernommen und die Angaben des Geschädigten somit nicht hätten überprüft werden können. Dieser Einstellungsbeschluss stellt nach Ansicht des EuGH keine Entscheidung dar, der eine Prüfung in der Sache vorausgegangen ist.

Würde Art 54 SDÜ auf eine solche Entscheidung angewendet, würde es damit erschwert oder gar ausgeschlossen, das rechtswidrige Verhalten des Beschuldigten in den betroffenen Mitgliedstaaten zu ahnden: In dem einen Mitgliedstaats wäre der Einstellungsbeschluss ohne jede eingehende Beurteilung des angelasteten Verhaltens erlassen worden und in dem anderen Mitgliedstaat wäre die Einleitung eines Strafverfahrens wegen derselben Tat beeinträchtigt. Eine solche Konsequenz liefe dem Zweck des Art 3 Abs 2 EUV offensichtlich zuwider (vgl in diesem Sinne EuGH 10. 3. 2005, C-469/03, Miraglia, EU:C:2005:156, Rn 33 und 34).

Auch wenn Art 54 SDÜ zwingend impliziert, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Vertragsstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht (EuGH 11. 12. 2008, C-297/07, Bourquain, EU:C:2008:708, Rn 37 und die dort angeführte Rsp, LN Rechtsnews 6235 vom 12. 12. 2008), kann das gegenseitige Vertrauen - so der EuGH - jedoch nur gedeihen, wenn der zweite Vertragsstaat in der Lage ist, sich auf der Grundlage der vom ersten Vertragsstaat übermittelten Unterlagen zu vergewissern, dass die betreffende Entscheidung der zuständigen Behörden des ersten Vertragsstaats tatsächlich eine rechtskräftige Entscheidung darstellt, die eine Prüfung in der Sache enthält.

Daher kann nach Ansicht des EuGH der vorliegende Beschluss der Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht als rechtskräftige Entscheidung iSv Art 54 SDÜ eingestuft werden: Die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen stellen ein Indiz dafür dar, dass im Ausgangsverfahren keine eingehenden Ermittlungen durchgeführt worden sind.

Nicht entscheidend für die Beurteilung war hingegen, dass der Einstellungsbeschluss von einer Staatsanwaltschaft erlassen und keine Sanktion vollstreckt worden ist.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

Das Verbot der Doppelbestrafung gem Art 54 des am 19. 6. 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. 6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen iVm Art 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren gegen eine Person vorbehaltlich der Wiedereröffnung des Strafverfahrens oder der Aufhebung des Beschlusses ohne die Auferlegung von Sanktionen endgültig eingestellt wird, nicht als rechtskräftige Entscheidung iS dieser Vorschriften eingestuft werden kann, wenn aus der Begründung dieses Beschlusses hervorgeht, dass dieses Verfahren eingestellt wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden wären, wobei die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen ein Indiz für das Fehlen solcher Ermittlungen darstellt.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 21888 vom 30.06.2016