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EuGH: Lebensversicherung – Rücktritt

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

RL 2009/138/EG: Art 185, Art 186

Die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag beginnt auch dann ab Kenntnis des Versicherungsnehmers vom Abschluss des Vertrags zu laufen, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt,

-nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach nationalem Recht keiner besonderen Form bedarf, oder
-eine Form verlangt wird, die nach dem nationalen Recht oder den Bestimmungen des Vertrags nicht vorgeschrieben ist.

Hat der Versicherer dem Versicherungsnehmer überhaupt keine Informationen über sein Rücktrittsrecht mitgeteilt oder sind die mitgeteilten Informationen derart fehlerhaft, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben, beginnt die Rücktrittsfrist selbst dann nicht zu laufen, wenn der Versicherungsnehmer auf anderem Wege von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt hat. Sind die rechtlichen Wirkungen des Fehlens bzw der Fehlerhaftigkeit der Informationen über das Rücktrittsrecht im nationalen Recht nicht geregelt, kann der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Kündigung und Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag (ua Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer) ausüben.

Dass der Versicherer dem Versicherungsnehmer nach dessen Vertragsrücktritt lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat, darf das nationale Recht nicht vorsehen. Zulässig ist jedoch eine nationale Regelung, nach der Vergütungszinsen auf Beträge, die der Versicherungsnehmer nach seinem Rücktritt vom Vertrag wegen ungerechtfertigter Bereicherung zurückverlangt, in drei Jahren verjähren, sofern dadurch die Wirksamkeit des Rücktrittsrechts des Versicherungsnehmers nicht beeinträchtigt wird.

EuGH 19. 12. 2019, C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, Rust-Hackner

Zu Vorabentscheidungsersuchen des LG Salzburg und des BGHS Wien.

Zu den Schlussanträge der Generalanwältin siehe Rechtsnews 27607 = RdW 2019/483.

Hinweis:

Wegen der verschiedenen Zeitpunkte, zu denen die Lebensversicherungsverträge abgeschlossen wurden, sind unterschiedliche Richtlinien anzuwenden (RL 90/619/EWG idF RL 92/96/EWG: Art 15; RL 92/96/EWG: Art 31; RL 2002/83/EG: Art 35, Art 36). Aufgrund der inhaltlichen Übereinstimmung zwischen den auszulegenden Richtlinienbestimmungen ergeben sich hieraus jedoch keine Unterschiede.

Entscheidung

1.Art 15 Abs 1 der Zweiten RL 90/619/EWG des Rates vom 8. 11. 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der RL 79/267/EWG in der durch die RL 92/96/EWG des Rates vom 10. 11. 1992 geänderten Fassung iVm Art 31 der RL 92/96/EWG des Rates vom 10. 11. 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte RL Lebensversicherung), Art 35 Abs 1 der RL 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. 11. 2002 über Lebensversicherungen iVm deren Art 36 Abs 1 und Art 185 Abs 1 der RL 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. 11. 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) iVm deren Art 186 Abs 1 sind dahin auszulegen, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt,
  • nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder
  • eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht oder den Bestimmungen des Vertrags nicht vorgeschrieben ist, solange dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Die vorlegenden Gerichte werden im Wege einer Gesamtwürdigung, bei der insb dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen sein wird, zu prüfen haben, ob den Versicherungsnehmern diese Möglichkeit durch den in den ihnen mitgeteilten Informationen enthaltenen Fehler genommen wurde.
2.Art 15 Abs 1 der RL 90/619 in der durch die RL 92/96 geänderten Fassung iVm Art 31 der RL 92/96 ist dahin auszulegen, dass, wenn der Versicherer dem Versicherungsnehmer überhaupt keine Informationen über sein Rücktrittsrecht mitgeteilt hat oder die mitgeteilten Informationen derart fehlerhaft sind, dass dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht unter im Wesentlichen denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben, die Rücktrittsfrist selbst dann nicht zu laufen beginnt, wenn der Versicherungsnehmer auf anderem Wege von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt hat.
3.Art 15 Abs 1 der RL 90/619 in der durch die RL 92/96 geänderten Fassung iVm Art 31 der RL 92/96 und Art 35 Abs 1 der RL 2002/83 iVm deren Art 36 Abs 1 sind dahin auszulegen, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Kündigung und Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, ua der Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer, ausüben kann, sofern in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.
4.Art 15 Abs 1 der RL 90/619 in der durch die RL 92/96 geänderten Fassung, Art 35 Abs 1 der RL 2002/83 und Art 185 Abs 1 der RL 2009/138 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Versicherer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat.
5.Art 15 Abs 1 der RL 90/619 in der durch die RL 92/96 geänderten Fassung, Art 35 Abs 1 der RL 2002/83 und Art 186 Abs 1 der RL 2009/138 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, nach der Vergütungszinsen auf Beträge, die der Versicherungsnehmer nach seinem Rücktritt vom Vertrag wegen ungerechtfertigter Bereicherung zurückverlangt, in drei Jahren verjähren, nicht entgegenstehen, sofern dadurch die Wirksamkeit des Rücktrittsrechts des Versicherungsnehmers nicht beeinträchtigt wird, was das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑479/18 zu prüfen haben wird.
Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 28457 vom 20.12.2019