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EuGH: Strafbefehl - Einspruch, Zustellungsbevollmächtigter

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

RL 2010/64/EU: Art, 1 Art 2, Art 3

RL 2012/13/EU: Art 2, Art 3, Art 6

1. Die Art 1 bis 3 der RL 2010/64/EU [über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren] stehen einer nationalen Rechtsvorschrift grds nicht entgegen, nach der ein Beschuldigter im Strafverfahren gegen einen Strafbefehl schriftlichen Einspruch nur in der Verfahrenssprache einlegen darf, selbst wenn er dieser Sprache nicht mächtig ist. Voraussetzung ist jedoch, dass die zuständigen Behörden nicht gem Art 3 Abs 3 RL 2010/64/EU der Auffassung sind, dass der Einspruch im Hinblick auf das betreffende Verfahren und die Umstände des Einzelfalls ein wesentliches Dokument darstellt.

2. Eine nationale Rechtsvorschrift, nach der ein Beschuldigter ohne Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten benennen muss, ist mit Art 2, Art 3 Abs 1 Buchstabe c und Art 6 Abs 1 und 3 der RL 2012/13/EU [über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren] vereinbar, sofern der Beschuldigte tatsächlich über die volle Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfügt.

EuGH 15. 10. 2015, C-216/14, Covaci

Zu einem deutschen Vorabentscheidungsersuchen.

Entscheidung

Mindestgarantien

In seinen Entscheidungsgründen erinnert der EuGH daran, dass die Mindestvorschriften der RL 2010/64/EU gewährleisten sollen, dass es unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte Personen ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird. Auch nach der Rsp des EGMR müsse für ein faires Verfahren nur sichergestellt werden, dass der Beschuldigte verstehen kann, was ihm vorgeworfen wird, und sich verteidigen kann; eine schriftliche Übersetzung jedes schriftlichen Beweises oder jedes Aktenstücks wird nicht verlangt.

Nach Ansicht des EuGH würde es daher über die Ziele der RL 2010/64/EU hinausgehen, wollte man von den Mitgliedstaaten nicht nur verlangen, dass sie den betreffenden Personen ermöglichen müssten, in vollem Umfang und in ihrer Sprache über den ihnen vorgeworfenen Sachverhalt in Kenntnis gesetzt zu werden und ihre eigene Version dieses Sachverhalts zu schildern, sondern auch, dass sie stets für die Übersetzung jedweden Rechtsbehelfs aufkommen müssten, den die betreffenden Personen gegen eine an sie gerichtete gerichtliche Entscheidung einlegen.

Dolmetschleistungen

Das in Art 2 RL 2010/64/EU vorgesehene Recht auf Dolmetschleistungen bezieht sich daher - so der EuGH - auf die Übersetzung mündlicher Mitteilungen zwischen den verdächtigen oder beschuldigten Personen und den Ermittlungs- und Justizbehörden oder gegebenenfalls dem Rechtsbeistand durch einen Dolmetscher, nicht aber auf die schriftliche Übersetzung von Schriftstücken, die diese verdächtigen oder beschuldigten Personen vorlegen.

Zum (deutschen) Ausgangsverfahren hält der EuGH somit fest, dass Art 2 der RL 2010/64/EU einem Beschuldigten wie Herrn Covaci die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers gewährleistet, wenn er selbst mündlich zu Protokoll der Geschäftsstelle des zuständigen nationalen Gerichts Einspruch gegen den Strafbefehl einlegt oder wenn er schriftlich Einspruch einlegt und dabei einen Rechtsbeistand hinzuzieht, der die Abfassung des entsprechenden Schriftstücks in der Verfahrenssprache übernimmt.

Übersetzung von Schriftstücke

Die Erhebung eines schriftlichen Einspruchs ohne Hinzuziehung eines Rechtsbestands fällt hingegen - so der EuGH - unter Art 3 RL 2010/64/EU, der das Recht auf Übersetzung „wesentlicher Unterlagen“ regelt. Aus seinem Wortlaut und aus Abs 4 geht hervor, dass Art 3 RL 2010/64/EU zum Ziel hat, „dass die verdächtigen oder beschuldigten Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird“, um ihnen die Wahrnehmung ihrer Verteidigungsrechte zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten. Als „wesentliche“ Unterlagen werden daher in Art 3 Abs 2 RL 2010/64/EU jedenfalls „jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil“ genannt.

Der EuGH hält daher fest, dass das Recht auf Übersetzung gem Art 3 Abs 1 und 2 RL 2010/64/EU grundsätzlich nicht die schriftliche Übersetzung eines Schriftstücks wie des Einspruchs gegen einen Strafbefehl einschließt. Allerdings setze die RL 2010/64/EU lediglich Mindestvorschriften fest und überlasse es den Mitgliedstaaten, ein höheres Schutzniveau zu bieten, und Art 3 Abs 3 RL 2010/64/EU erlaube es den zuständigen Behörden darüber hinaus ausdrücklich, im konkreten Fall darüber zu entscheiden, ob weitere Dokumente „wesentlich“ iSd Art 3 Abs 1 und 2 RL 2010/64/EU sind.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 20407 vom 16.10.2015