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EuGH: Vergabeverfahren ohne vorherige Bekanntmachung – Pauschalgebühren

Bearbeiter: Barbara Tuma

GRC: Art 47

In einem Rechtsstreit über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen über die Lieferung von Antigentests SARS-Cov-2 (COVID-19) durch die Republik Österreich und die Bundesbeschaffungsgesellschaft (21 Rahmenvereinbarungen über den Erwerb von Antigentests im Wert von 3 Mio € Ende 2020) hat das BVwG zahlreiche Vorlagefragen an den EuGH gerichtet, die ua mit der BVwG-PauschGebV Vergabe 2018 im Zusammenhang standen. Dazu hält der EuGH ua fest, dass Art 47 GRC einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach der Rechtsuchende, der einen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung oder einen Nachprüfungsantrag stellt, Pauschalgebühren in nicht absehbarer Höhe zu entrichten hat, wenn sich der öffentliche Auftraggeber für ein Vergabeverfahren ohne vorherige Bekanntmachung bzw gegebenenfalls ohne spätere Vergabebekanntmachung entschieden hat, so dass der Rechtsuchende möglicherweise nicht wissen kann, wie hoch der geschätzte Wert des betreffenden Auftrags ist und wie viele gesondert anfechtbare Entscheidungen der öffentliche Auftraggeber erlassen hat, nach denen sich die Höhe der Pauschalgebühren richtet.

EuGH 14. 7. 2022, C-274/21 und C-275/21, EPIC Financial Consulting

Zum Vorabentscheidungsersuchen BVwG 22. 4. 2021, W131 2237371-1 und W131 2237371-2.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

1. Art 1 Abs 1 der RL 89/665/EWG des Rates vom 21. 12. 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die RL 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 2. 2014 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Abschluss einer Rahmenvereinbarung mit einem einzigen Wirtschaftsteilnehmer gem Art 33 Abs 3 der RL 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 2. 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der RL 2004/18/EG dem Abschluss des in Art 2a Abs 2 der RL 89/665 in der durch die RL 2014/23 geänderten Fassung genannten Vertrags entspricht.

2. Art 33 Abs 3 der RL 2014/24 ist dahin auszulegen, dass sich ein öffentlicher Auftraggeber für die Vergabe eines neuen Auftrags nicht mehr auf eine Rahmenvereinbarung, bei der die darin festgelegte Höchstmenge und/oder der darin festgelegte Höchstwert der betreffenden Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen bereits erreicht worden ist bzw sind, stützen kann, es sei denn, die Vergabe dieses Auftrags führt zu keiner wesentlichen Änderung der Rahmenvereinbarung iSv Art 72 Abs 1 Buchst e dieser RL.

3. Der Äquivalenzgrundsatz ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die für Anträge auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung und Nachprüfungsanträge in Vergabeverfahren Verfahrensvorschriften vorsieht, die sich von denjenigen unterscheiden, die ua für Zivilverfahren gelten.

4. Art 1 Abs 1 der RL 89/665 in der durch die RL 2014/23 geänderten Fassung ist im Licht von Art 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es dem Rechtsuchenden obliegt, in seinem Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung oder in seinem Nachprüfungsantrag das betreffende Vergabeverfahren und die von ihm beanstandete gesondert anfechtbare Entscheidung zu benennen, wenn sich der öffentliche Auftraggeber für ein Vergabeverfahren ohne vorherige Bekanntmachung entschieden hat und die Vergabebekanntmachung noch nicht veröffentlicht worden ist.

5. Art 2 Abs 1 der RL 89/665 in der durch die RL 2014/23 geänderten Fassung ist im Licht von Art 47 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen,

-dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Gericht, das mit einem Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung, mit dem Beschaffungen des öffentlichen Auftraggebers verhindert werden sollen, befasst ist, ausschließlich zum Zweck der Berechnung der Pauschalgebühren – die der Antragsteller insofern zwingend zu entrichten hat, als sonst sein Antrag allein aus diesem Grund zurückgewiesen werden könnte – vor der Entscheidung über diesen Antrag die Art des betreffenden Vergabeverfahrens, den (geschätzten) Wert des fraglichen Auftrags sowie die Summe der gesondert anfechtbaren Entscheidungen bzw allenfalls auch die Lose aus dem betreffenden Vergabeverfahren ermitteln muss, wenn sich der öffentliche Auftraggeber für ein Vergabeverfahren ohne vorherige Bekanntmachung entschieden hat und die Vergabebekanntmachung zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Aufhebung einer Entscheidung iZm diesem Verfahren noch nicht veröffentlicht worden ist;
-dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Gericht, das mit einem Nachprüfungsantrag, der auf die Nichtigerklärung einer gesondert anfechtbaren Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers gerichtet ist, befasst ist, ausschließlich zum Zweck der Berechnung der Pauschalgebühren – die der Antragsteller insofern zwingend zu entrichten hat, als sonst sein Antrag allein aus diesem Grund zurückgewiesen werden könnte – vor der Entscheidung über diesen Antrag die Art des betreffenden Vergabeverfahrens, den (geschätzten) Wert des fraglichen Auftrags sowie die Summe der gesondert anfechtbaren Entscheidungen bzw allenfalls auch die Lose aus dem betreffenden Vergabeverfahren ermitteln muss.

6. Art 47 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach der Rechtsuchende, der einen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung oder einen Nachprüfungsantrag stellt, Pauschalgebühren in nicht absehbarer Höhe zu entrichten hat, wenn sich der öffentliche Auftraggeber für ein Vergabeverfahren ohne vorherige Bekanntmachung bzw gegebenenfalls ohne spätere Vergabebekanntmachung entschieden hat, so dass der Rechtsuchende möglicherweise nicht wissen kann, wie hoch der geschätzte Wert des betreffenden Auftrags ist und wie viele gesondert anfechtbare Entscheidungen, nach denen sich die Höhe der Pauschalgebühren richtet, der öffentliche Auftraggeber erlassen hat.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 32805 vom 15.07.2022