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Gerichtliche und verwaltungsbehördliche Strafbarkeit - Subsidiarität

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

VStG § 22

In § 22 Abs 1 VStG idgF BGBl I 2013/33 ist generell der Grundsatz festgelegt, dass eine Tat als Verwaltungsübertretung nur dann strafbar ist, wenn sie nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet. Dass die Verwaltungsstrafnorm gegebenenfalls eine andere Schutzrichtung aufweist als die gerichtliche Strafnorm ändert an der Subsidiarität nichts. Ebenso wenig kommt es auf die tatsächliche Einleitung (oder gar den Abschluss) eines Strafverfahrens an oder auf den Umstand, dass die strafgerichtliche Verfolgung nur auf Verlangen zu erfolgen hat. Auch die Frage, ob der Beschuldigte die Tat verschuldet hat oder ein Entschuldigungsgrund in Betracht zu ziehen ist (hier: § 115 Abs 3 StGB), ist für die Subsidiarität der Verwaltungsstrafdrohung nicht entscheidend.

Erschöpft sich daher hier die Tathandlung (Anstandsverletzung) in einem Verhalten, das den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet, so ist die Verwaltungsübertretung gem § 22 Abs 1 VStG nicht strafbar.

Ob die Tat den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet, ist dabei von der Verwaltungsstrafbehörde - im Falle einer Beschwerde vom Verwaltungsgericht - als Vorfrage zu beurteilen.

VwGH 22. 11. 2016, Ra 2016/03/0095

Sachverhalt

Der Mitbeteiligte wurde von einer BH nach § 18 Abs 1 lit a iVm § 1 Abs 1 Vlbg SittenpolizeiG bestraft (Geldstrafe von € 50,-; Ersatzfreiheitsstrafe von 25 Stunden), weil er einer bestimmten Person den Mittelfinger gezeigt hat.

Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht seiner Beschwerde statt und stellte das Verwaltungsstrafverfahren ein, weil die Beschimpfung einer anderen Person durch Zeigen des Mittelfingers in Gegenwart von fünf weiteren Personen eine gerichtlich strafbare Handlung iSd § 115 Abs 1 StGB darstellt. Im Hinblick auf die Unzuständigkeit der Verwaltungsbehörden zur Verfolgung der Tat sei das Straferkenntnis ersatzlos aufzuheben und die Verfolgung der Tat einzustellen gewesen.

Die dagegen erhobene Revision wurde vom VwGH als unbegründet abgewiesen.

Entscheidung

In seiner Begründung weist der VwGH ua darauf hin, dass sich die geltende Rechtslage von der früheren unterscheidet: Bis zum Inkrafttreten des § 22 Abs 1 VStG idgF BGBl I 2013/33 (= Verwaltungsgerichtsbarkeits-Ausführungsgesetz 2013) war idR nicht von einer Subsidiarität der verwaltungsbehördlichen Strafbarkeit auszugehen, es sei denn, dies wäre in der Verwaltungsvorschrift ausdrücklich angeordnet gewesen.

Im vorliegenden Fall hat das VwG die Beurteilung der Vorfrage nach Auffassung des VwGH „in nicht zu beanstandender Weise“ dahingehend vorgenommen, dass die Tathandlung eine vor mehreren Personen begangene Beleidigung iSd § 115 StGB darstellt (vgl zur Beleidigung durch Zeigen des „Stinkefingers“ Rami, Wiener Kommentar zum StGB, Rz 8 zu § 115). Dieser Beurteilung trat die Revision nicht entgegen; auch aus den vorgelegten Verfahrensakten ließ sich nicht erkennen, dass sich die Tathandlung nicht in der Beleidigung erschöpfen würde.

Zum Vlbg SittenpolizeiG hält der VwGH fest, dass eine Spezialität des § 12 Vlbg SittenpolizeiG (Ehrenkränkung) im Verhältnis zu § 1 Vlbg SittenpolizeiG (Anstandsverletzung) schon deshalb nicht anzunehmen ist, weil konstituierendes Merkmal der Ehrenkränkung nach § 12 Vlbg SittenpolizeiG ist, dass die Tathandlung nicht öffentlich oder vor mehreren Leuten begangen wird (in diesem Fall läge nämlich eine Beleidigung iSd § 115 StGB vor), während für das Vorliegen einer Anstandsverletzung das Merkmal der Öffentlichkeit vorliegen muss (was zwar nicht die Begehung der Tat an einem öffentlichen Ort voraussetzt, wohl aber die konkrete Möglichkeit der Kenntnisnahme über den Kreis der Beteiligten hinaus).

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 22900 vom 05.01.2017