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Gerichtsnotorische Tatsachen und (Negativ-)Feststellungen

Bearbeiter: Barbara Tuma

ZPO: § 269

Aufgrund des Ergebnisses einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen kann eine ursprünglich beweisbedürftige Tatsache zwar tatsächlich gerichtsbekannt iSd § 269 ZPO werden. Geht das BerufungsG aber – anders als das ErstG – von solchen notorischen Tatsachen aus (hier: Unrichtigkeit der Ad-hoc-Meldung vom 9. 2. 2007 betr die angeblich erfolgreiche Kapitalerhöhung bei den M*****-Zertifikaten), muss es dies mit den Parteien erörtern und ihnen Gelegenheit geben, den Gegenbeweis anzutreten. Dies ist unabhängig davon erforderlich, ob das BerufungsG dabei von erstgerichtlichen (Negativ-)Feststellungen abgeht oder sie bloß ergänzt. Einem Geständnis iSd § 266 ZPO sind derartige als notorisch festgestellte Tatsachen nicht gleichzuhalten.

OGH 25. 4. 2017, 10 Ob 57/16d

Sachverhalt

Der kl Anleger kaufte am 5. 6. 2007 und 8. 6. 2007 M*****-Zertifikate und verkaufte sie nach deren Kurssturz im Sommer 2007 am 6. 9. 2007 mit großem Verlust. Erst- und Zweitbeklagte sind die Depotbank, die für die Platzierung der Zertifikate an der Wiener Börse zuständig war, und die ehemalige Firma M***** Ltd mit Sitz in Jersey.

Mit seiner Klage vom 2. 3. 2012 macht der geschädigte Anleger gegen beide Bekl den Schaden aus der Differenz von eingesetztem Kapital und Verkaufserlös geltend und wirft den Bekl vorsätzliche Schädigung durch irreführende Werbung sowie Verstöße gegen die Ad-hoc-Meldepflicht nach dem BörseG vor. Nur der zuletzt genannte Anspruchsgrund ist Gegenstand des Revisionsverfahrens. Das Vorbringen des Kl bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die irreführende und unrichtige Ad-hoc-Meldung vom 9. 2. 2007 (Meldung über eine erfolgreiche Kapitalerhöhung, obwohl nicht alle Zertifikate am Markt platziert werden konnten, sondern zu 49 % über eine Tochtergesellschaft zurückgekauft wurden).

Das ErstG stützte die Klagsstattgebung im Wesentlichen auf Prospekthaftung und irreführende Werbebroschüren. Eine Haftung der Bekl wegen unrichtiger oder irreführend unvollständiger Ad-hoc-Mitteilungen verneinte es mangels Kausalität für den Anlageentschluss des Kl, weil (ua) nicht festgestellt werden konnte, dass der Berater des Kl Ad-hoc-Mitteilungen, Geschäftsberichte, Rechenschaftsberichte oder den Kapitalmarktprospekt vollständig gelesen oder Medienberichte zu M***** verfolgt und gelesen hätte.

Das BerufungsG gab der Berufung der beiden Bekl im Ergebnis nicht Folge. Es bejahte die Haftung der Bekl allerdings im Hinblick auf einen als notorisch angenommenen Sachverhalt zu Ad-hoc-Meldepflichtverletzungen iZm der Meldung vom 9. 2. 2007, die Gegenstand zahlreicher gleichartiger Anlegerparallelverfahren gewesen sei. Auf dieser Basis ging das BerufungsG kraft Notorietät auch davon aus, dass der Kl bzw sein Berater von einer korrekten Ad-hoc-Meldung zeitnah Kenntnis erlangt hätten.

Auf Basis des zweiteiligen Zulassungssausspruchs des BerufungsG hält der OGH fest, dass die Revisionen hier nur zur Klärung des Verhältnisses von Negativfeststellungen und notorischen Tatsachen zulässig waren. Diesbezüglich erwiesen sich die Revisionen auch als berechtigt und führten wegen eines Verfahrensfehlers des BerufungsG zur Aufhebung des Berufungsurteils.

Die in der Zulassungsbegründung vom BerufungsG weiters vermisste höchstgerichtliche Leitlinie, ab wann in Massenverfahren vielfach getroffenen Feststellungen Notorietät zukommt, konnte der OGH allerdings nicht aufstellen, weil es sich dabei nicht um eine Rechtsfrage handelt und er nicht Tatsacheninstanz ist.

Entscheidung

Unrichtige Ad-hoc-Meldung

Ihre grundsätzliche Haftung wegen Ad-hoc-Meldepflichtverletzungen ziehen die Bekl auf Basis der vom BerufungsG als notorisch angenommenen Tatsachen nicht in Zweifel (vgl dazu auch die mittlerweile gefestigte ständige höchstgerichtliche Rsp in Bezug auf die Ad-hoc-Mitteilung der Zweitbekl vom 9. 2. 2007; RIS-Justiz RS0127724 ua).

Zur Beweislastverteilung iZm der Kausalitätsprüfung bei einer unterlassenen Ad-hoc-Meldung verweist der OGH va auf die Grundsätze, die in der E 9 Ob 26/14k, RdW 2015/387, aufgestellt wurden (und ihr folgend 10 Ob 85/14v).

Keine Nichtigkeit

Als Nichtigkeit, hilfsweise als Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, rügen beide Bekl, dass das BerufungsG sein Vorgehen iZm den als notorisch festgestellten Tatsachen nicht mit den Parteien erörtert habe. Dadurch habe es ihr rechtliches Gehör und den Unmittelbarkeitsgrundsatz verletzt, außerdem liege eine Überraschungsentscheidung vor. Im Gegensatz zur Meinung des BerufungsG seien diese Tatsachen nicht gerichtskundig iSd § 269 ZPO.

Eine Gehörverletzung iSd § 477 Abs 1 Z 4 ZPO und eine daraus abzuleitende Nichtigkeit liegt nach Ansicht des OGH nicht vor, weil die Bekl Gelegenheit hatten, sich im Verfahren erster Instanz zu den behaupteten Ad-hoc-Meldepflichtverletzungen und deren Kausalität für die Anlageentscheidung des Kl zu äußern, und sie dies auch ausführlich getan haben.

Keine unzweifelhaft offenkundige Tatsache – Gegenbeweis

Ein wesentlicher Mangel des Berufungsverfahrens lag nach Auffassung des OGH aber sehr wohl vor:

Dem BerufungsG steht es nämlich nicht zu, allein mit dem Hinweis auf Offenkundigkeit von Feststellungen abzugehen, die das ErstG aufgrund unmittelbarer Beweisaufnahme getroffen hat. Da die Offenkundigkeit einer Tatsache bezweifelt werden kann und der Beweis der Unrichtigkeit offenkundiger Tatsachen zulässig ist, muss das BerufungsG das von ihm beabsichtigte Abweichen von erstinstanzlichen Feststellungen mit den Parteien erörtern und ihnen Gelegenheit geben, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (RIS-Justiz RS0040219 [T6 und T7]).

Diese Grundsätze gelten sowohl für allgemeinkundige wie auch gerichtskundige Tatsachen iSd § 269 ZPO.

Aufgrund des Ergebnisses einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen kann eine ursprünglich beweisbedürftige Tatsache zwar tatsächlich gerichtsbekannt iSd § 269 ZPO werden, sodass sie in der Folge keiner neuerlichen Beweisaufnahme bedarf (6 Ob 229/15t mwN). Ob diese Voraussetzungen zutreffen, obliegt allerdings ebenso der Beurteilung der Tatsacheninstanzen wie die Beurteilung der Stichhaltigkeit allenfalls angebotener Gegenbeweise (RIS-Justiz RS0040158 [T2]). An diesen – keineswegs erst jüngst ausschließlich vom 6. Senat des OGH geprägten – Judikaturgrundsätzen hält der erkennende Senat somit hier ausdrücklich fest.

Ob das BerufungsG tatsächlich von erstgerichtlichen (Negativ-)Feststellungen abgegangen ist oder diese nur ergänzt hat, konnte letztlich dahingestellt bleiben: Wäre in den als notorisch festgestellten Tatsachen ein Abweichen von erstgerichtlichen Feststellungen zu erkennen, müsste dies nach der oben zitierten Rechtsprechung jedenfalls mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit gegeben werden, den Gegenbeweis anzutreten. Dies gilt aber auch, wenn man von einer bloßen Ergänzung des Sachverhalts um die vom BerufungsG als notorisch erachteten Umstände ausgehen wollte; eine unzweifelhaft offenkundige Tatsache im Sinn der zitierten Rechtsprechung liegt insoweit nicht vor. Die Erörterungspflicht mit den Parteien besteht daher auch in diesem Fall.

Der vom BerufungsG als Grundlage für seine Vorgangsweise herangezogene Vergleich mit dem Geständnis überzeugt den OGH hingegen nicht: Das BerufungsG meinte, im Verhältnis zwischen einer Negativfeststellung und einer notorischen Tatsache sei die Negativfeststellung – wie bei Vorliegen eines Geständnisses – unbeachtlich. Tatsächlich bindet das gerichtliche Geständnis iSd § 266 ZPO das Gericht an eine zugestandene Tatsache und schafft bezüglich dieser Tatsache ein Beweisthemenverbot; das Geständnis hat aufgrund der Dispositionsmaxime jedenfalls Vorrang vor einer Negativfeststellung (RIS-Justiz RS0039949 [T6]). Demgegenüber sind offenkundige Tatsachen iSd § 269 ZPO zwar grundsätzlich nicht beweisbedürftig; der Gegenbeweis der Unrichtigkeit offenkundiger Tatsachen ist aber – wie bereits erörtert – grundsätzlich zulässig. Das Argument des Vorrangs der Dispositionsmaxime kann im Fall notorischer Tatsachen daher jedenfalls dann nicht tragen, wenn der Inhalt dieser Tatsachen nicht mit den Parteien zuvor erörtert und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme geboten wurde.

Verjährung

Die Zweitbekl hält Schadenersatzansprüche aus der Ad-hoc-Mitteilung vom 9. 2. 2007 für verjährt: Die Notorietät der Rückkäufe und ihre rasche Verbreitung müsse – egal ob im Rahmen einer fiktiven korrekten Ad-hoc-Meldung im Februar 2007 oder durch tatsächliche Verbreitung im Sommer 2007 – der gesamten rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Die Verjährungsfrist habe daher spätestens am Tag des Verkaufs der Zertifikate am 6. 9. 2007 zu laufen begonnen.

Nach Darstellung seiner Rsp zum Beginn der Verjährungsfrist des § 1489 ABGB stimmt der OGH dem BerufungsG dahingehend zu, dass der Kurssturz im Jahr 2007 zwar allenfalls geeignet war, zeitnah Zweifel an der beworbenen Sicherheit der Veranlagung zu begründen und Nachforschungen über die Richtigkeit von Werbe- und Beratungsinhalten nahezulegen; aus dem Kurssturz sei für den Kl aber nicht abzuleiten gewesen, inwieweit eine als erfolgreich dargestellte Kapitalerhöhung fehlgeschlagen war. Der Kurssturz im Sommer 2007 war für den als „zögerlichen Sparbuchsparer“ qualifizierten und mit Anlageprodukten völlig unerfahrenen Kl noch kein ausreichender Anlass, von einer Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Ad-hoc-Mitteilungen auszugehen.

Nach den Feststellungen des ErstG wurde über Aktienrückkäufe bei der M***** in österreichischen Tageszeitungen erst ab November 2010 berichtet. Der Schadenersatzanspruch auf Basis der Ad-hoc-Pflichtverletzungen – so er tatsächlich besteht – war nach Ansicht des OGH daher bei Klagseinbringung am 2. 3. 2013 jedenfalls nicht verjährt.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 24009 vom 07.08.2017