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Vertrauensgrundsatz betr körperlich beeinträchtigte Personen

Bearbeiter: Wolfgang Kolmasch

EKHG § 9

ABGB § 1311

StVO § 3

§ 3 Abs 1 StVO nimmt ua Menschen mit offensichtlicher körperlicher Beeinträchtigung vom Vertrauensgrundsatz aus. Diese Ausnahme ist einschränkend dahin auszulegen, dass sie sich lediglich auf Verhaltensweisen bezieht, die durch die körperliche Beeinträchtigung bedingt sind (etwa auf den Umstand, dass eine gehbehinderte oder gebrechliche Person beim Überqueren länger auf der Fahrbahn verweilen könnte). Hingegen können andere Verkehrsteilnehmer auch bei einer körperlich beeinträchtigten Person mangels gegenteiliger Anhaltspunkte darauf vertrauen, dass diese einsichtsfähig ist und sich - soweit die Beeinträchtigung kein Hindernis darstellt - im Straßenverkehr entsprechend verhalten wird.

Die Benützung eines Elektromobils (Behinderten- bzw Seniorenfahrzeug) macht zwar eine körperliche Beeinträchtigung iSd § 3 Abs 1 StVO offensichtlich. Selbst bei Anlegung des besonders hohen Sorgfaltsmaßstabs nach § 9 EKHG (unabwendbares Ereignis) muss ein Kfz-Lenker jedoch nicht damit rechnen, dass der Lenker eines solchen Gefährts, der vor ihm auf einem Radfahrstreifen fährt, an einem Fußgängerübergang unvermittelt nach links abbiegen und die Fahrbahn überqueren wird.

OGH 21. 10. 2015, 2 Ob 56/15x

Sachverhalt

Der Lenker des Beklagtenfahrzeugs (Pkw) wollte auf der Höhe eines Fußgängerübergangs mit einem Seitenabstand von 1 m das Elektromobil passieren, mit dem die 83-jährige Klägerin auf dem rechten Radfahrstreifen fuhr. Er hatte seine Geschwindigkeit auf ca 30 km/h reduziert (die generell erlaubte Höchstgeschwindigkeit beträgt im Unfallbereich 50 km/h). Die Klägerin bog mit ihrem maximal 6 km/h schnellen Gefährt ohne rechtzeitige Vorankündigung mittels des vorhandenen Blinkers und auch sonst überraschend nach links ein, um am Fußgängerübergang die Fahrbahn zu überqueren. Da der Lenker des Beklagtenfahrzeugs aufgrund der späten Erkennbarkeit des Abbiegemanövers kein unfallvermeidendes Verhalten mehr setzen konnte, kam es zur Kollision.

Im vorliegenden Verfahren begehrte die Klägerin von dem Lenker, dem Halter und der Haftpflichtversicherung des Beklagtenfahrzeugs Schadenersatz. Dessen Lenker treffe das Alleinverschulden an dem Unfall. Da sie als Lenkerin eines Elektromobils gem § 3 Abs 1 StVO vom Vertrauensgrundsatz ausgenommen sei, hätte er seine Geschwindigkeit iSd § 3 Abs 2 StVO vor der geplanten Vorbeifahrt so weit reduzieren müssen, dass jede Gefährdung ausgeschlossen ist.

Entscheidung

Wie die Vorinstanzen lehnte der OGH nicht nur eine Verschuldens-, sondern auch eine Gefährdungshaftung der Beklagten ab. Aus Sicht des Lenkers des Beklagtenfahrzeugs stelle der Unfall ein unabwendbares Ereignis dar, weshalb die Gefährdungshaftung gem § 9 EKHG entfalle. Sein Verhalten sei auch vor dem Hintergrund des besonders hohen objektiven Sorgfaltsmaßstabs dieser Bestimmung nicht zu beanstanden. Auch wenn aufgrund der Nutzung eines Elektromobils eine körperliche Beeinträchtigung der Klägerin iSd § 3 Abs 1 StVO offensichtlich war, habe er nicht damit rechnen müssen, dass diese unvermittelt seinen Weg kreuzt. Die Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz sei insoweit einschränkend auszulegen.

Anmerkung

Beachte die Judikaturübersicht zum Sorgfaltsmaßstab des § 9 EKHG in Zak 2014/775, 406.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 20608 vom 19.11.2015