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VfGH: Aussagebefreiung auch für ehemalige Lebensgefährten

Bearbeiter: Barbara Tuma

B-VG Art 7

StGG Art 2

StPO § 156

§ 156 Abs 1 Z 1 StPO gewährt ein Aussageverweigerungsrecht zwar ehemaligen Ehegatten bzw eingetragenen Partnern, nicht aber ehemaligen Lebensgefährten. Im Hinblick auf den Schutzzweck dieser Norm (mögliche emotionale Zwangslage bei einer Aussage) sind diese Personengruppen aber vergleichbar und der VfGH kann keine sachliche Rechtfertigung für die divergente Behandlung dieser Personengruppen erkennen. Die Regelung verletzt daher den Gleichheitsgrundsatz (Art 7 B-VG, Art 2 StGG).

Als geringstmöglichen Eingriff hat der VfGH die Wortfolge „, wobei die durch eine Ehe oder eingetragene Partnerschaft begründete Eigenschaft einer Person als Angehöriger für die Beurteilung der Berechtigung zur Aussageverweigerung aufrecht bleibt, auch wenn die Ehe oder eingetragene Partnerschaft nicht mehr besteht“ in § 156 Abs 1 Z 1 StPO (BGBl 1975/631 idgF BGBl I 2009/135) mit Ablauf des 31. 12. 2017 als verfassungswidrig aufgehoben. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

VfGH 10. 10. 2016, G 662/2015, G 664/2015

Entscheidung

Keine Rechtfertigung im Hinblick auf Schutzzweck

Entgegen den Argumenten der Bundesregierung sieht der VfGH keine Gründe dafür, dass es zum Schutz des Grundsatzes der materiellen Wahrheitsforschung erforderlich wäre, das Aussagebefreiungsrecht ehemaliger Lebensgefährten anders zu regeln als für Personen, deren Ehe bzw eingetragene Partnerschaft nicht mehr aufrecht ist. Auch wenn durchaus nach wie vor Unterschiede zwischen Ehe bzw eingetragener Partnerschaft und nichtehelicher Lebensgemeinschaft im Rechtsfolgenbereich bestehen (vgl VfSlg 17.979/2006), liegen nach Ansicht des VfGH die Umstände, die ein Fortbestehen des Aussagebefreiungsrechts auch nach formeller Auflösung der Gemeinschaft rechtfertigen, bei ehemaligen Lebensgefährten gleichermaßen vor:

Der Schutzzweck des (absoluten) Aussagebefreiungsrechts besteht insb darin, Zeugen nicht der emotionalen Zwangslage auszusetzen, einen Angehörigen, sohin eine Person, zu der idR ein besonderes Naheverhältnis besteht, belasten und damit zu seiner Verurteilung beitragen zu müssen. Der VfGH sieht keine sachlichen Gründe, die eine solche emotionale Zwangslage bei ehemaligen Ehegatten bzw eingetragenen Partnern (weiterhin) vermuten ließe, nicht aber bei früheren Lebensgefährten. Eine sachliche Rechtfertigung für die divergente Behandlung der maßgeblichen Personengruppen in Bezug auf das Recht auf Aussagebefreiung kann der VfGH daher in Anbetracht der Motivation des Gesetzgebers bei Schaffung dieses Instituts nicht erkennen.

Nach Ansicht des VfGH ist die Ungleichbehandlung auch nicht erforderlich zur Wahrung des Grundsatzes der materiellen Wahrheitsforschung, weil der Gesetzgeber die Einschränkung dieses Prinzips nach Beendigung insoweit vergleichbarer Partnerschaftsformen in Kauf nimmt.

In diesem Zusammenhang hält der VfGH auch ausdrücklich fest, dass § 156 StPO lediglich ein Aussagebefreiungsrecht - und kein Vernehmungsverbot - normiert, weshalb es den betroffenen Zeugen freisteht, von diesem Recht keinen Gebrauch zu machen und auszusagen.

Keine Rechtfertigung durch Beschleunigungsgebot

Keine Rechtfertigung sieht der VfGH auch durch das Beschleunigungsgebot im Strafverfahren: Zwar mag sich der Nachweis des früheren Bestehens einer Lebensgemeinschaft im Einzelfall schwieriger gestalten als der Nachweis einer geschiedenen Ehe oder aufgelösten eingetragenen Partnerschaft; den Aufwand für die erforderliche Beweisführung hält der VfGH aber für idR nicht unverhältnismäßig. Der (Zeit-)Aufwand wird im Durchschnitt wohl nicht wesentlich von jenem für die - häufig ebenfalls beweismäßig komplexe - Feststellung einer aufrechten Lebensgemeinschaft abweichen, deren Vorliegen vom Strafgericht bereits seit Einführung des Aussagebefreiungsrechts für Lebensgefährten zu prüfen ist (vgl BGBl 1974/60).

Vor diesem Hintergrund fällt die Abwägung des öffentlichen Interesses an der (amtswegigen) und möglichst zügigen Wahrheitsforschung nach Ansicht des VfGH zu Gunsten der berechtigten Interessen der Zeugen aus, die sich häufig in einer emotionalen Zwangslage befinden; jedenfalls wiegt eine idR unwesentliche Verzögerung des Strafverfahrens durch die Beweiserhebung zur Feststellung einer früheren Lebensgemeinschaft nicht schwerer als der geschützte Interessenkonflikt der Zeugen.

Aufhebung

Da § 156 Abs 1 Z 1 StPO das Aussagebefreiungsrecht insoweit vergleichbaren Personengruppen ohne sachlichen Grund in unterschiedlichem Umfang gewährt, verletzt die Regelung den Gleichheitsgrundsatz (Art 7 B-VG, Art 2 StGG); § 156 Abs 1 Z 1 StPO erweist sich daher schon deshalb als verfassungswidrig, so der VfGH.

Allerdings genügt zur Herstellung eines verfassungskonformen Zustands nach Ansicht des VfGH die Aufhebung der Wortfolge „, wobei die durch eine Ehe oder eingetragene Partnerschaft begründete Eigenschaft einer Person als Angehöriger für die Beurteilung der Berechtigung zur Aussageverweigerung aufrecht bleibt, auch wenn die Ehe oder eingetragene Partnerschaft nicht mehr besteht“ in § 156 Abs 1 Z 1 StPO als geringstmöglicher Eingriff, womit die (nicht bekämpfte) Aussagebefreiung für sonstige Angehörige bestehen bleiben kann.

Ein Eventualantrag, der auf die gänzliche Aufhebung des § 72 Abs 2 StGB idF BGBl I 2013/25 gerichtet war, wurde daher auch vom VfGH abgewiesen.

Im Hinblick auf die Aufhebung schon wegen des Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz befasste sich der VfGH auch nicht mehr mit den weiteren Argumenten des Antragstellers betr eine Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK).

Hinweis: Die Aufhebung wurde in BGBl I 2016/92 kundgemacht.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 22610 vom 14.11.2016