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VfGH: Ausschluss vom Wahlrecht wegen gerichtlicher Verurteilung

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

EuWEG: § 3

NRWO: § 22

1. ZPMRK: Art 3

IZm den Übergangsregelungen für Verurteilungen vor dem 1. 10. 2011 hat der VfGH bereits ausgesprochen, dass § 22 NRWO bzw § 3 EuWEG (jeweils idgF BGBl I 2011/43) unter Zugrundelegung der Rsp des EGMR und des EuGH im (weiten) rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Einschränkungen des Wahlrechts liegen (VfGH 2. 3. 2017, WIV 4/2016, VfSlg 20.135/2017). Von dieser Entscheidung abzugehen, besteht keine Veranlassung: Die dortigen Überlegungen zur Verfassungskonformität des automatischen Ausschlusses vom Wahlrecht gelten umso mehr für jene Regelungen, die bei Verurteilungen ab 1. 10. 2011 zur Anwendung gelangen und den Ausschluss vom Wahlrecht nur bei einer gerichtlichen Einzelfallentscheidung vorsehen, die als Nebenstrafe im Rahmen der Strafzumessung zu verhängen ist. Der behauptete Verstoß in § 22 Abs 1 NRWO bzw § 3 Abs 1 EuWEG gegen Art 3 des 1. ZPMRK (durch die Wortfolge „oder wegen einer sonstigen mit Vorsatz begangenen strafbaren Handlung zu einer nicht bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren“) liegt somit nicht vor.

VfGH 28. 2. 2019, G 319/2018 ua

Ausgangsfall

Die vorliegende Entscheidung beruht auf einem Gesetzesprüfungsantrag des OLG Graz, das mit der Berufung nach einer Verurteilung wegen Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und anderen strafbaren Handlungen befasst ist. Neben einer Freiheitsstrafe von acht Jahren wurde mit dem erstinstanzlichen Urteil auch der Ausschluss vom Wahlrecht gem § 446a StPO iVm § 22 Abs 1 NRWO und § 3 Abs 1 EuWEG verhängt.

Bedenken des OLG Graz gegen § 22 Abs 1 NRWO und § 3 Abs 1 EuWEG bestanden va im Hinblick auf das Legalitätsprinzp des Art 18 B-VG (inhaltlich nicht ausreichend bestimmte Regelung) und auf Art 3 des 1. ZPMRK (Recht auf freie Wahlen): Mit der Neufassung von § 22 NRWO und § 3 EuWEG durch BGBl I 2011/43 sei zwar auf das Urteil EGMR 8. 4. 2010, 20.201/04, Frodl gegen Österreich, reagiert worden; ein Zusammenhang zwischen der begangenen Straftat und Wahlangelegenheiten müsse jedoch weiterhin nicht bestehen, sodass auch die Neuregelung unverändert gegen das Recht auf freie Wahlen verstoße.

Zu den Bedenken im Hinblick auf Art 18 B-VG hatte der VfGH infolge des zu geringen Anfechtungsumfangs nicht einzugehen (das OLG Graz hätte neben den gesamten § 22 Abs 1 NRWO und § 3 Abs 1 EuWEG auch die damit in untrennbarem Zusammenhang stehenden Bestimmungen § 22 Abs 2 NRWO, § 3 Abs 2 EuWEG und § 446a StPO anfechten müssen).

Hinsichtlich der Bedenken betr Art 3 des 1. ZPMRK war der Antrag zwar zulässig, aber im Ergebnis abzuweisen.

Entscheidung

In der E VfGH 2. 3. 2017, WIV 4/2016 (VfSlg 20.135/2017) hat sich der VfGH mit § 22 NRWO bzw § 3 EuWEG, jeweils idF BGBl I 2011/43, iZm den Übergangsregelungen für Verurteilungen vor dem 1. 10. 2011 befasst. Danach waren Personen, die aufgrund von § 22 NRWO bzw § 3 EuWEG, jeweils idF vor BGBl I 2011/43, gesetzlich vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, aufgrund der Anordnung in den Übergangsbestimmungen wieder in die (Europa-)Wählerevidenz aufzunehmen, sofern auf sie keiner der Wahlausschließungsgründe der Neufassung des § 22 NRWO bzw § 3 EuWEG zutraf. Diese Regelung liegt nach der E WIV 4/2016 unter Zugrundelegung der Rsp des EGMR und des EuGH innerhalb des (weiten) rechtspolitischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei Einschränkungen des Wahlrechts:

-Mit den Wahlrechtsausschlussgründe in § 22 NRWO bzw § 3 EuWEG wird eine Eingrenzung der betroffenen Gruppe von Straftätern vorgenommen. Es wird auch jeweils auf die konkret – nach richterlicher Abwägung der Erschwerungs- und Milderungsgründe (§§ 32 ff StGB) – verhängte Freiheitsstrafe Bedacht genommen.
-Der Verlust des Wahlrechts bei längeren unbedingten Freiheitsstrafen wegen einer Vorsatztat (Freiheitsstrafe von mehr als 5 Jahren) entspricht auch jener Dauer, die der EuGH als angemessen erachtete (vgl EuGH 6. 10. 2015, C-650/13, Delvigne, Rechtsnews 20349); auch der EGMR erachtete den Entzug des Wahlrechts bei einer Dauer der Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren als mit Art 3 1. ZPMRK vereinbar (EGMR 22. 5. 2012, 126/05, Fall Scoppola (Nr 3)).
-Durch die Abstufung, die auf die Art und Schwere der begangenen Straftat und das Verhalten des Täters Bedacht nimmt, ist eine erhebliche Anzahl von verurteilten Straftätern vom Wahlrechtsausschluss nicht erfasst, etwa Personen, die zu kürzeren Freiheitsstrafen wegen nicht ausdrücklich genannter Delikte verurteilt wurden, deren Freiheitsstrafen bedingt nachgesehen wurden oder die eine strafbare Handlung nicht vorsätzlich begangen haben. Dadurch unterscheidet sich die österreichische Rechtslage auch von jenen Rechtslagen, die der EGMR als mit Art 3 1. ZPMRK unvereinbar erachtet hat (vgl etwa EGMR 4. 7. 2013, 11.157/04 und 15.162/05, Fall Anchugov und Gladkov; EGMR 17. 9. 2013, 29.411/07, Fall Söyler; EGMR 21. 10. 2014, 9.540/07, Fall Murat Vural; EGMR 21. 7. 2016, 63.849/09, Fall Kulinski und Sabev).
-Insoweit sowohl der EGMR im Fall Scoppola (Nr 3) als auch der EuGH in der Rs Delvigne die Möglichkeit der nachträglichen Überprüfung des Entzugs des Wahlrechts betont haben, unterscheidet sich die österreichische Rechtslage in einem entscheidenden Punkt von der dortigen italienischen bzw französischen Rechtslage: Nach der österreichischen Rechtslage ist nämlich ein automatisches Ende des Ausschlusses vom Wahlrecht vorgesehen, sobald die Strafe vollstreckt ist.

Der VfGH sieht sich auch nun nicht veranlasst, von dieser Rsp abzugehen.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 27015 vom 20.03.2019