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VfGH: COVID-19 – Ungleichbehandlung von Kunst und Religionsausübung

Bearbeiter: Sabine Kriwanek

B-VG: Art 7

EMRK: Art 9

StGG: Art 2, Art 17a

Die 5. COVID-19-Notmaßnahmenverordnung sah für den Zeitraum vom 22. 11. 2021 bis 11. 12. 2021 einen bundesweiten Lockdown (auch für Geimpfte und Genesene) vor. Das Betreten des Kundenbereichs von Kultureinrichtungen war in diesem Zeitraum untersagt (§ 7 Abs 1 Z 4), und zwar ausnahmslos. Hingegen waren Zusammenkünfte zur gemeinsamen Religionsausübung vom Geltungsbereich der Verordnung ausgenommen (§ 18 Abs 1 Z 7).

Das angefochtene Betretungsverbot für Kultureinrichtungen gem § 7 Abs 1 Z 4 der 5. COVID-19-NotMV, BGBl II 2021/475, und die Beschränkungen in Bezug auf Zusammenkünfte gem § 14 Abs 1 Z 9 der 5. COVID-19-NotMV, BGBl II 2021/475, stellten zwar keine unverhältnismäßigen Beschränkungen der Freiheit der Kunst gem Art 17a StGG dar. Jedoch ist für den VfGH eine sachliche Rechtfertigung für die (kategoriale) Ungleichbehandlung von Religion und Kunst nicht zu erkennen. Der VfGH hat ausgesprochen, dass § 18 Abs 1 Z 7 5. COVID-19-Notmaßnahmenverordnung (5. COVID-19-NotMV), BGBl II 2021/475, gesetzwidrig war.

VfGH 30. 6. 2022, V 312/2021

Entscheidung

Der Verordnungsgeber hat in § 18 Abs 1 Z 7 der 5. COVID-19-NotMV "Zusammenkünfte zur Religionsausübung" schlechthin vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausgenommen. Derartige Zusammenkünfte sind nach der 5. COVID-19-NotMV daher in jeder Hinsicht und in jedem Umfang zulässig, ungeachtet dessen, ob diese Zusammenkünfte im Freien oder in geschlossenen Räumen stattfinden, ob sie Gottesdiensten, Andachten oder der sonstigen Ausübung religiöser Gebräuche dienen und unter Beteiligung welcher Anzahl an Personen sie erfolgen. Der Verordnungsgeber lässt also nicht nur näher eingegrenzte Formen der Religionsausübung in Gemeinschaft mit anderen zu, um ein diesbezüglich, wie der BMSGPK formuliert, elementares Grundbedürfnis gemeinschaftlicher Religionsausübung in Krisenzeiten zu ermöglichen, sondern nimmt mit § 18 Abs 1 Z 7 der 5. COVID-19-NotMV jedwede Zusammenkunft – zu welcher Form der Religionsausübung auch immer – vom Anwendungsbereich der Verordnung aus.

Demgegenüber ist nach dem Regelungssystem der 5. COVID-19-NotMV die künstlerische Betätigung gemeinsam mit anderen, sofern sie nicht zu beruflichen Zwecken in fixer Zusammensetzung erfolgt, und die künstlerische Betätigung und damit die Vermittlung künstlerischen Schaffens für andere Menschen gänzlich untersagt.

Angesichts der Schutzzwecke von Art 9 EMRK und von Art 17a StGG vermag der VfGH eine sachliche Rechtfertigung für eine derartige kategoriale Ungleichbehandlung nicht zu erkennen. Religion wie Kunst gehören – unabhängig voneinander, vielfach aber auch miteinander verschränkt – zu den Grundbedürfnissen einer zivilisierten Gesellschaft. In beiden Fällen kommt bestimmten Grundrechtsausübungen gemeinsam mit oder vor anderen Menschen wesentliche Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund besteht zwischen dem Zusammenkommen von Personen zu religiösen Zwecken einerseits und zu künstlerischen Zwecken andererseits im Hinblick auf die Zielsetzung der Beschränkungen der 5. COVID-19-NotMV, Menschenansammlungen möglichst hintanzuhalten, kein solcher Unterschied, der es rechtfertigen würde, Zusammenkünfte im Schutzbereich des Art 17a StGG praktisch weitestgehend zu untersagen, während Zusammenkünfte im Schutzbereich des Art 9 EMRK schlechthin möglich sind.

Der Verfassungsgerichthof verkennt nicht, dass es besondere Gründe geben kann, die bestimmte begünstigende Ausnahmen und damit eine Ungleichbehandlung der Freiheitsbetätigungen rechtfertigen können (so kann sich insb über begrenzte Zeiträume die Notwendigkeit der Berücksichtigung elementarer Grundbedürfnisse [vgl auch § 3 Abs 1 Z 3 lit e der 5. COVID-19-NotMV] iZm entsprechender grundrechtlicher Betätigung gemeinsam mit bzw vor anderen unterschiedlich darstellen). Für die in § 18 Abs 1 Z 7 der 5. COVID-19- NotMV angeordnete unbegrenzte Ausnahme jedweder Zusammenkünfte zur Religionsausübung lässt sich aber im Vergleich zum weitgehend untersagten künstlerischen Wirken, auch in den Fällen, in denen dieses essentiell auf künstlerische Darbietung vor Publikum ausgerichtet und auf dieses angewiesen ist, eine sachliche Rechtfertigung nicht finden.

Angesichts des Schutzzweckes der 5. COVID-19-NotMV trifft diese nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Zusammenkünften im Schutzbereich des Art 9 EMRK einer- und des Art 17a StGG andererseits die unsachliche Ausnahmeregelung des § 18 Abs 1 Z 7 der 5. COVID-19-NotMV, weil dem Verordnungsgeber eine erheblich weitergehende Öffnung von Zusammenkünften nicht zugesonnen werden kann. Der VfGH hat daher festzustellen, dass § 18 Abs 1 Z 7 der 5. COVID-19-NotMV wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz gesetzwidrig war.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 32879 vom 02.08.2022