Dieser Inhalt ist frei verfügbar. Mit einem Abonnement der Zak erhalten Sie die Zeitschrift in Print und vollen digitalen Zugriff im Web, am Smartphone und Tablet. Mehr erfahren…
Testen Sie
ALLE 13 Zeitschriftenportale
30 Tage lang kostenlos.
Der Zugriff endet nach 30 Tagen automatisch.
Alle LexisNexis-Fachzeitschriften sind im Volltext auch in Lexis 360® verfügbar.
Lexis 360 ist Österreichs innovativste* Recherchelösung und bietet Zugriff auf
alle relevanten Quellen von Rechtsnews, Gesetzen, Urteilen und Richtlinien bis
zu Fachzeitschriften und Kommentaren.
Testen Sie jetzt Lexis 360® kostenlos.
*Ergebnis einer Umfrage unter 225 Steuerberater:innen und Rechtsanwält:innen (Mai 2024) durchgeführt von IPSOS im Auftrag von LexisNexis Österreich.
RL 2012/13/EU: Art 2, Art 3, Art 6
Nach Art 6 RL 2012/13/EU kommt es darauf an, dass das Strafverfahren fair ist und eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird. Bei unbekanntem Wohnsitz eines Beschuldigten in einem Strafverfahren darf das nationale Recht (hier: Deutschland) daher zwar grds vorsehen, dass die Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl ab seiner Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten läuft und der Strafbefehl mit Ablauf der Einspruchsfrist rechtskräftig wird. Sobald der Betroffene aber von dem Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt, muss er in die gleiche Lage versetzt werden, als sei ihm der Strafbefehl persönlich zugestellt worden. Er muss daher insb über die volle Einspruchsfrist verfügen können, gegebenenfalls durch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Dass das nationale Verfahren der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Voraussetzungen für die Durchführung eines solchen Verfahrens im Einklang mit diesen Anforderungen angewandt werden und dass dieses Verfahren somit die wirksame Ausübung der Rechte nach Art 6 RL 2012/13/EU ermöglicht, muss vom nationalen Gericht sichergestellt werden.
EuGH 22. 3. 2017, C-124/16, C-188/16 und C-213/16, Tranca
Ausgangsverfahren
Zu deutschen Vorabentscheidungsersuchen.
In den Ausgangsverfahren war der Wohnsitz der Beschuldigten unbekannt, dh sie hatten in keinem Mitgliedstaat einen festen Wohnsitz und auch keinen festen Aufenthalt im Ausstellungsmitgliedstaat des Strafbefehls (hier: Deutschland).
Nach deutschem Recht steht einem Beschuldigte für einen Einspruch gegen den Strafbefehl eine Frist von zwei Wochen offen, die in einem Fall wie hier ab der Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten läuft; nach Ablauf dieser Frist wird der Strafbefehl rechtskräftig.
Bei einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat der Beschuldigte nach deutschem Recht faktisch ebenfalls zwei Wochen Zeit für den Einspruch gegen den Strafbefehl, wobei diese 2-wöchige Frist zu dem Zeitpunkt beginnt, zu dem der Beschuldigte Kenntnis von dem Strafbefehl erlangt.
Eines der vorlegenden Gerichte hegt Zweifel daran, ob das Strafbefehlsverfahren des deutschen Rechts mit der RL 2012/13/EU in der Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil EuGH 15. 10. 2015, C-216/14, Covaci (EU:C:2015:686), im Einklang steht. Danach darf ein Mitgliedstaat grds vorsehen, dass der Beschuldigte eines Strafverfahrens ohne Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat für die Zustellung des Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten benennen muss, sofern der Beschuldigte tatsächlich über die volle Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl verfügt, dh dass diese Frist nicht durch die Zeitspanne verkürzt werden kann, die der Zustellungsbevollmächtigte benötigt, um den Strafbefehl dem Adressaten zukommen zu lassen.
Die Anwendung dieser Entscheidung in Fällen wie hier, in denen der Wohnsitz der Beschuldigten unbekannt ist, würde nach Ansicht des vorlegenden Gerichts dazu führen, dass der Strafbefehl nicht rechtskräftig würde: Da er nämlich dem Adressaten nicht persönlich ausgehändigt werden könne, könnte die Einspruchsfrist nicht zu laufen beginnen. Das vorlegende Gerichts fragt sich jedoch auch, ob das deutsche Recht mit dem Unionsrecht im Einklang steht, weil die Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten zwar die Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl in Gang setzt, der Beschuldigte aber bei Fristversäumnis dennoch die Möglichkeit hat, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen, um gegen den Strafbefehl Einspruch einzulegen.
Entscheidung
Zu den Vorlagefragen des deutschen Gerichts stellt der EuGH nun klar, dass Art 6 RL 2012/13/EU nicht verlangt, dass die Einspruchsfrist ab dem Zeitpunkt läuft, zu dem der Beschuldigte vom Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat. Es kommt hingegen darauf an, dass das Verfahren fair ist und eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird.
Dass dies der Fall ist, wenn nach der nationalen Regelung die Einspruchsfrist zwar ab Zustellung des Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten läuft, ihre Dauer aber nicht durch die Zeit verkürzt wird, die der Zustellungsbevollmächtigte benötigt hat, um den Strafbefehl dem Adressaten zukommen zu lassen, hat der EuGH im Urteil EuGH 15. 10. 2015, C-216/14, Covaci, EU:C:2015:686, Rn 67, klargestellt.
Im vorliegenden Fall verweist der EuGH nun auf das Ziel des Art 6 RL 2012/13/EU, Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten. Dieses Ziel würde offenkundig beeinträchtigt, wenn der Adressat eines Strafbefehls, der rechtskräftig und vollstreckbar geworden ist, dagegen keinen Einspruch mehr einlegen könnte, obwohl er zu einem Zeitpunkt, zu dem er seine Verteidigungsrechte hätte ausüben können, keine Kenntnis von der Existenz und vom Inhalt des Strafbefehls hatte, weil ihm dieser mangels eines bekannten Wohnsitzes nicht persönlich zugestellt wurde. In einer solchen Situation könnte der Adressat eines Strafbefehls nicht nur nicht die volle Frist für den Einspruch nutzen, sondern würde ganz an einem Einspruch gehindert.
Daher müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass im Rahmen eines Strafverfahrens Beschuldigte oder Verdächtige, die - wie im vorliegenden Fall - erst zum Zeitpunkt der Vollstreckung der rechtskräftigen Verurteilung über den Tatvorwurf unterrichtet werden, dennoch die Möglichkeit behalten, ihre Verteidigungsrechte uneingeschränkt auszuüben. Hierfür ist ein Beschuldigter, sobald er von der strafrechtlichen Entscheidung tatsächlich Kenntnis erlangt hat, in die gleiche Lage zu versetzen, als sei ihm diese Entscheidung persönlich zugestellt worden, und er muss insb über die volle Einspruchsfrist verfügen.
Im vorliegenden Fall (Rechtskraft des Strafbefehls zwar mit Ablauf der Einspruchsfrist ab Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten, aber Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und damit faktisch ebenso lange Einspruchsfrist ab Kenntnis des Beschuldigten vom Strafbefehl) obliegt es somit nach Ansicht des EuGH den vorlegenden Gerichten, das nationale Recht - insb das Verfahren der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Voraussetzungen für die Durchführung eines solchen Verfahrens - im Einklang mit den Anforderungen nach Art 6 RL 2012/13/EU auszulegen.
Der EuGH hat für Recht erkannt:
Art 2, Art 3 Abs 1 Buchst c und Art 6 Abs 1 und 3 der RL 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. 5. 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie denen der Ausgangsverfahren nicht entgegenstehen, die im Rahmen eines Strafverfahrens vorsehen, dass ein Beschuldigter, der in diesem Mitgliedstaat keinen festen Aufenthalt hat und weder dort noch in seinem Herkunftsmitgliedstaat einen festen Wohnsitz hat, für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen hat und dass die Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl - bevor dieser vollstreckbar wird - ab der Zustellung des Strafbefehls an diesen Bevollmächtigten läuft.
Art 6 der RL 2012/13/EU verlangt jedoch, dass bei der Vollstreckung des Strafbefehls die betroffene Person, sobald sie von dem Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat, in die gleiche Lage versetzt wird, als sei ihr der Strafbefehl persönlich zugestellt worden, und insb über die volle Einspruchsfrist verfügt, gegebenenfalls durch ihre Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Es obliegt dem vorlegenden Gericht, darauf zu achten, dass das nationale Verfahren der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Voraussetzungen für die Durchführung eines solchen Verfahrens im Einklang mit diesen Anforderungen angewandt werden und dass dieses Verfahren somit die wirksame Ausübung der Rechte nach Art 6 der RL 2012/13/EU ermöglicht.